Silvermind (German Edition)
Der wusste zwar von den häuslichen Umständen, allerdings erwartete der dennoch Pünktlichkeit und Disziplin. Etwas, das Ray in letzter Zeit nicht mehr aufweisen konnte. Er gab sein Bestes, doch das Leben hatte nicht vorgesehen, dass die Dinge einfach verliefen. Die Situation mit Roger spitzte sich tagtäglich zu, die Verantwortung für Lora lastete schwer. Er liebte seine Schwester. Aber die Ansprüche, die an ihn gestellt wurden, waren zu hoch.
Die Bahn fuhr ein, er setzte sich auf einen der leeren Plätze und holte sein Handy aus der Tasche. Ray steckte die Stöpsel ins Ohr, wählte einen seiner Lieblingstitel aus, lehnte sich zurück. Es musste sich etwas ändern, das wusste er. Nur diesen Schritt zu gehen war verdammt schwer.
***
Der Arbeitstag hatte sich schleppend dahin gezogen. Ray war mit einer Abmahnung davon gekommen, nachdem er verschlafen hatte. Er spielte mit dem Feuer und wusste, dass er sich irgendwann verbrennen würde. Lange würde es nicht mehr dauern.
Ray ging durch die leere Straße, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, auf dem Weg zur Bar, in der er mit Dean verabredet war. Eigentlich hatte er den Abend mit Lora verbringen wollen, allerdings gab es eine Planänderung. Kurzfristig war sie bei einer Freundin untergekommen und würde dort übernachten. Ray hatte nichts dagegen.
Eine Nacht mehr, die Lora nicht daheim verbringen musste. Er traute seinem Vater nicht über den Weg. Seine Zweifel waren begründet. Ray wusste aus eigener Erfahrung, wie Roger austicken konnte, wenn dieser besoffen war. Er lebte in der ständigen Angst, dass seiner Schwester etwas passieren könnte.
Ray betrat die zwielichtige Kneipe, hielt Ausschau nach seinem Kumpel, der bereits an der Bar lungerte.
„Hey!“
Mit einem Handschlag begrüßte er Dean und ließ sich neben diesem auf einem Hocker nieder.
„Heute ganz in zivil? Kommst gerade vom Krankenhaus, oder?“, fragte sein Freund. Ray nickte. Er war Krankenpfleger im städtischen Hospital. Jetzt trug er schlichte, schwarze Kleidung.
„Gibt´s was Neues?“, erkundigte er sich. Dean grinste ihn verräterisch an.
„Zeno hat sich gemeldet.“
„Ihr habt Nummern getauscht?“
„Nein. Ich habe ihm meine einfach zugesteckt.“
Ray verdrehte die Augen. Klar, damit hätte er rechnen sollen. Egal wie oft Dean benutzt worden war, er ließ nichts anbrennen.
„Du weißt, dass du dich ins nächste Unglück stürzt?“
„Dafür habe ich dann dich, Ray.“
„Toll“, meinte er wenig begeistert und bestellte eine Coke. Wäre ja nicht so, dass er selbst immer unweigerlich mitlitt. Scheiß Empathie. Das Leid, das seinem Freund wiederfuhr, stürzte ihn ebenfalls in ein tiefes Loch. Ray reagierte auf Stimmungen, vor allem auf die negativen. Das passierte ganz automatisch, ohne, dass er groß Einfluss darauf hatte. Manchmal wünschte er, sein Freund würde einer Gehirnwäsche unterzogen werden. Aus rein egoistischen Gründen.
„Weißt du was?“
„Ne“, entgegnete Ray und nippte an der Cola.
„Die wollen dich noch mal haben.“
„Wer?“
„Na die Typen, bei denen du letztes Mal aufgetreten bist. Ich habe dir doch gesagt, dass du Talent hast.“
„Bezahlen die mich? Ich verliere nämlich demnächst meinen Job“, stieß er tonlos aus und richtete den Blick auf den Barkeeper, der gerade einen Cocktail mixte.
„Was?“
„Ärger mit dem Chef. Hab heute die zweite Abmahnung kassiert. Beim dritten Mal fliege ich.“
„Stress mit dem Alten?“ Dean wusste von den Problemen der häuslichen Gewalt, wusste von der Alkoholsucht Rogers. Es hatte lange gedauert, bis Ray sich gegenüber seinem Kumpel öffnete, obwohl sie seit Kindheitstagen befreundet waren. Dennoch war es ein Thema, das er lieber mied, als darüber zu sprechen. Verhindern ließ es sich nicht, dass Erinnerungen aufgewühlt wurden, der gegenwärtige Schmerz sich brachial Bann brach. Deswegen wich er aus, anstatt sich mit der Situation auseinanderzusetzen.
„Klar, wie immer. Aber es geht mir weniger um mich, vielmehr um Lora. Die hat es schwer genug. Ohne Job wäre ich ziemlich am Arsch.“
„Oh Mann. Aber du weißt, dass du jederzeit zu mir kommen kannst.“
„Klar, in deine Zweiraumwohnung, in der du kaum Platz hast. Jetzt, wo du was mit Zeno am Laufen hast, wäre das ja perfektes Timing.“
„Zynismus steht dir nicht“, meinte Dean finster. Ray zuckte gleichgültig mit den Schultern. Er nahm noch einen Schluck.
„Also? Bezahlen
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