Silvermind (German Edition)
klingelt es da bei dir?“
„Ja, kann sein. Was gibt’s?“
„Ich wollte fragen, wann das Casting ist … Ich hätte jemanden, den ihr mit Kusshand nehmen würdet. Er ist Autodidakt.“
„Ich will Können hören und sehen. Dabei ist es mir egal, ob autodidaktisch oder nicht.“
„Aber es wäre von Vorteil.“
„Sicherlich. Überzeugt mich aber nicht.“
„Nero, Ray ist einsame Spitze. Du hast ihn gesehen, als ich zu ihm gegangen bin. Diese eins fünfundachtzig Meter große Erscheinung vergisst man nicht.“
Klar wusste Nero, dass von dem blauhaarigen Fremden die Rede war, natürlich wusste er auch, welchen Dean er an der Strippe hatte. Nur würde das alles nichts nützen. Genauso wenig, wie es Mark versucht hatte.
„Wenn er in die Band will, soll er am Freitag kommen. Dann kann er vorspielen.“
„Verdammt. Gibt es einen anderen Termin?“
„Nein. Das Auswahlverfahren ist an dem Abend.“
Es blieb kurz still, bis er Dean tief einatmen hörte.
„Also gut. Wann ist Deadline?“
„Null Uhr. Ich hoffe nicht, dass wir so lange brauchen werden.“
„Ist das ein Scherz?“
„Nein. Es haben sich viele gemeldet.“
„Okay, na dann. Man sieht sich.“
„Jap.“
Damit legte Nero auf. Es war verrückt, dass zwei unterschiedliche Personen am gleichen Tag sagten, dass der Goth für die Band geeignet war. Demonstrativ fand Nero, dass das nicht der Fall war. Er hatte das ungute Gefühl, das ihm der Kerl auf irgendeine Weise gefährlich werden konnte ...
***
Kapitel 4 – Ray
Musik war Gefühl. Musik war Leben. Pulsierend, ausdrucksstark. Mitreißend in den Sog unterschiedlicher Klänge. Musik war Trost.
Solange Ray denken konnte, war sie sein Begleiter. Weil Musik für ihn etwas war, das einer lebenden Person glich. Von der man aufgefangen wurde, Verständnis erfuhr. Auch war sie für ihn wie ein Beschützer. Für andere war das nicht verständlich. Doch für Ray war Musik die Welt.
Schon als kleines Kind hatte er sich begeistert an sämtlichen Instrumenten versucht, frühzeitig Songs geschrieben, sich dieser Leidenschaft hingegeben. Emotionen konnte er damit Ausdruck verleihen.
Für seine Mutter war das nie nachvollziehbar gewesen. Sein Vater hatte kein Interesse gehabt. Als ´unbrauchbarer Dreck` war Rays Hobby deklariert worden. Aber das war die einzige Sache gewesen, die ihm wirklich wichtig war. Irgendwann hatte er sich nichts mehr daraus gemacht, dass seine Passion keinen Anklang fand, dass diese immer wieder Streitthema Nummer eins gewesen war. Die ständigen Auseinandersetzungen hatten dazu geführt, dass es ihm schlicht gleichgültig geworden war, was andere über ihn dachten, was seine Familie von ihm hielt.
Es änderte sich nicht, auch als Rays Mutter auszog, zu einem neuen Partner. Roger sorgte dafür, dass Ray das letzte bisschen Freude am Leben genommen wurde. Hasseskapaden führten dazu, dass sein Klavier auf dem Sperrmüll landete, Notenblätter aus dem Fenster flogen. Das letzte Mal hatte Ray haarscharf die Gitarren retten können. Seither spielte er bei Dean oder heimlich, wenn Roger nicht zu Hause war.
Lora war die Einzige, neben seinem Kumpel, die ihn unterstützte. Der große Bruder, der abends an ihrem Bett saß und Gutenachtlieder sang. Sie mochte seine Stimme, liebte die Texte, die er schrieb, auch wenn sie diese nicht immer verstand. Manchmal erzählte Ray ihr, was er dabei gedacht hatte, als er die Worte zu Papier brachte.
Oft genug waren Erklärungen überflüssig. Denn in Ray konnte man lesen, wie in einem Buch, wenn man genau hinsah. Das tat seine Schwester für ihr zartes Alter viel zu aufmerksam. Vielleicht konnte sie ihn verstehen, weil sie eine innige geschwisterliche Bindung hatten, ein ähnliches Schicksal teilten. Oder es lag daran, dass sie nachdachte, sich in Menschen hineinversetzte.
Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Rays Lippen. Sacht fuhr er Lora durch die braunen Locken, strich eine Haarsträhne beiseite. Er fühlte Schmerz, als er sie betrachtete. Eine Platzwunde zierte ihre Stirn, ihre Oberlippe war aufgeschürft.
Ray ballte die rechte Hand zur Faust. Angeblich war sie die Treppe hinunter gefallen, als sie auf dem Weg zur Schule gewesen war. Er glaubte es nicht. Roger war in den letzten Tagen anders als sonst. Schwieriger, aggressiver. Ein Stoß …
Ray hasste die Gewalt, die in seiner Familie herrschte, hasste diese Wut, die sein Vater an ihnen ausließ. Am schlimmsten war die Alkoholsucht, die immer mehr
Weitere Kostenlose Bücher