Silvy will die Erste sein
elend und verlassen vor wie ein Schiffbrüchiger auf einer einsamen Insel.
Da nutzte auch kein Stoßgebet zum Himmel mehr etwas.
Als Dr. Künzel das Zeichen gab,
Schluß zu machen, und die Hefte einsammeln ließ, hatte Leonore nur eine einzige
Aufgabe gelöst. Sie machte sich nichts vor, das mußte einen glatten Fünfer
geben.
Ihre Fassung reichte gerade
noch so lange, wie der Mathematiklehrer in der Klasse war. Dann brach sie in
Tränen aus.
Olga, die zu ihr gestürzt kam,
um die Ergebnisse der einzelnen Aufgaben, die sie auf einen Zettel gekritzelt
hatte, mit ihr zu vergleichen, merkte es sofort. „Leonore“, rief sie, „was ist
los mit dir?“
Auch die anderen Mädchen wurden
jetzt aufmerksam.
„Ich hab die Arbeit verhauen“,
gestand Leonore, ihrer Stimme kaum noch mächtig.
„Ach was, das kommt dir sicher
nur so vor!“
„Nein, bestimmt nicht. Ich habe
bloß die erste Aufgabe lösen können.“
„Ja um Himmels willen!“ schrie
Katrin. „Warum hast du denn da nicht von Silvy abgeschrieben?“
Silvy ging sofort zum Angriff
über. „Das ist das einzige, was euch einfällt! Abschreiben und abschreiben
lassen, mehr könnt ihr nicht. Aber wem, bitte, soll damit geholfen sein?“
„Leonore zum Beispiel“, sagte
Olga.
„Quatsch!“ entgegnete Silvy.
„Wir gehen doch nicht in die Schule, um uns, egal wie, ordentliche Noten zu
verschaffen, sondern um etwas zu lernen!“
„Das sagst ausgerechnet du?“
rief Katrin.
„Nein, laß mal“, sagte Olga,
„damit hat Silvy schon recht, man lernt nichts, wenn man einfach abschreibt.
Aber trotzdem darf man, finde ich, eine Freundin in so einer Situation nicht
einfach hängenlassen.“
„Danke. Ich brauche keine
Belehrungen“, erklärte Silvy, „ich weiß sehr gut selber, was ich zu tun habe.
Wenn ich Leonore hätte abschreiben lassen...“
„Du hast es also ganz bewußt
verhindert!?“ rief Ruth.
„Ja, denn damit hätte ich
Leonore nur geschadet.“
„Wie unendlich rührend von dir,
Silvy“, sagte Katrin mit gespielter Ergriffenheit, „was bist du doch für ein
grundanständiges und verantwortungsbewußtes Mägdelein.“ Unvermittelt fuhr sie
auf sie los und änderte den Ton. „Du verflixte Heuchlerin du! Soll ich dir mal sagen,
warum du Leonore nicht geholfen hast? Weil du froh bist, wenn eine von uns
absinkt, weil dein Stern dann um so glänzender leuchten kann, du alte Streberin
du!“
„Das ist ja nicht wahr!“
„Ach, lüg doch nicht auch noch.
Ich kenne dich besser als du dich selber.“ Katrin wandte sich ab. „Wenn jemand
nur für die Zensuren lernt, dann bist du es.“
„Nun gut, ich gebe ja zu“,
sagte Silvy, „daß ich Leonore auch deshalb nicht habe abschreiben lassen, weil
ich es ungerecht fände, wenn sie eine anständige Note kriegte, obwohl sie
tatsächlich nichts kann, und ich hasse nun mal Ungerechtigkeiten. Wenn jemand
zu dumm ist, um mitzukommen, dann gehört er nicht in unsere Klasse, und wenn
jemand zu faul ist, dann sollte er eben lernen.“
„Ja, sag mal, was ist
eigentlich los mit dir, Leonore?“ fragte Olga. „Früher warst du doch immer ganz
gut in Mathe! Wahrscheinlich müßtest du dich einfach mal wieder auf deine vier
Buchstaben setzen und...“
Leonore putzte sich die Nase.
„Ach, laßt mich doch in Ruhe“, sagte sie erstickt.
„Na, bitte“, erklärte Olga
eingeschnappt, „wenn du dir nicht raten lassen willst...“ Sie setzte sich auf
ihren Platz.
Leonore hätte am liebsten laut
geweint vor Verzweiflung. Aber schon klingelte es zur nächsten Stunde.
*
Ein
salomonisches Urteil
Eine Woche später gab Dr.
Künzel die Mathematikarbeiten zurück. Die Mädchen wurden ganz still, als er,
einen Stoß Hefte unter dem Arm, das Klassenzimmer betrat.
Nur Katrin verschlug es nicht
die Laune. Als Dr. Künzel ihr die Hefte zum Austeilen übergab, schlug sie die
Hacken zusammen wie ein kleiner Soldat. „Zu Befehl, Boß!“
Dr. Künzel konnte Spaß
verstehen. „Mir scheint, du hast allen Grund zu lachen, Katrin“, sagte er.
Noch beim Austeilen machte
Katrin Faxen. Sie tat so, als müßte sie die Namen auf den Heften gründlich
studieren und auch die Besitzerin einer Musterung unterziehen, bevor sie sie
übergeben konnte.
Plötzlich stutzte sie und
fragte: „Katrin Bär?“ — Sie sah sich suchend um und rief laut: „Katrin Bär!“
Dann tippte sie sich ganz erstaunt auf die Brust: „Ach so, das bin ja ich!“
Aber keine der Schülerinnen
hatte heute Sinn für ihre
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