Silvy will die Erste sein
Späße. Die einen hatten inzwischen entsetzt oder
erleichtert, je nachdem, ihre Noten zur Kenntnis genommen, und die anderen
konnten es kaum noch abwarten, bis sie ihr eigenes Heft endlich in Händen
hielten.
Leonore hatte schon das mit
kräftiger Schrift und roter Tinte hingehauene „Ungenügend“ unter ihrer Arbeit
gelesen. Selbst die erste Aufgabe, die einzige die sie gelöst hatte, war falsch
gewesen. Sie mußte die Tränen verbeißen und sah mit starrem Gesicht geradeaus.
Auch Silvy hatte in dieser
ersten Aufgabe einen Fehler, und so war die Gesamtnote nur eine Zwei geworden,
wenn auch eine Zwei plus. Ein weniger ehrgeiziges Mädchen hätte sich sicher auch
darüber noch gefreut. Aber Silvy empfand es wie eine persönliche Beleidigung.
„Das kommt nur daher, weil du
mich gestört hast!“ zischte sie Leonore zu, als sie, nach mehrmaligem Rechnen,
feststellen mußte, daß tatsächlich sie und nicht Dr. Künzel sich geirrt hatte.
Leonore war viel zu betroffen,
um sich zu verteidigen.
Ruth jubelte auf. „Juhu!“ rief
sie begeistert und schwenkte ihr Heft durch die Luft. „Stellt euch vor... ich
habe null Fehler! Eine Eins! Eine glatte Eins!“ Sie konnte ihr Glück gar nicht
fassen.
Silvy fuhr hoch wie von der
Tarantel gestochen. „Das ist Schiebung!“ schrie sie.
Dr. Künzel gab den Schülerinnen
Zeit, ihre Enttäuschung oder ihre Begeisterung abzureagieren, er hörte gar
nicht auf das, was sie da durcheinanderschrien — oder vielleicht tat er auch
nur so.
Dann aber klopfte er mit dem
Lineal auf den Lehrertisch. „Meine Damen, meine Damen, darf ich um Ruhe
bitten?“
Die Mädchen wurden still.
Nur Silvy war so aufgebracht,
daß sie nicht so ohne weiteres abschalten konnte. „Jede Wette, du hast auch
eine Eins, was, Katrin?“ zischte sie.
Katrin zog es vor, auf diese
Frage nicht zu antworten, sondern legte nur mahnend ihren Zeigefinger auf die
Lippen.
„Hast du eine Eins? Ja oder
nein?“ rief Silvy mit erhöhter Stimme.
„Heinze“, sagte Dr. Künzel und
benutzte wie immer, wenn er ärgerlich wurde, den Nachnamen, „mir scheint
wirklich das Interesse, das du an den Noten deiner Mitschülerinnen nimmst, ein
wenig übertrieben.“
Silvy lief rot an. „Aber Ruth
hat abgeschrieben, Herr Doktor! Ich bin sicher, daß sie abgeschrieben hat!“
Plötzlich wurde es in der
Klasse so ruhig, daß man die berühmte Stecknadel hätte zu Boden fallen hören
können.
Dr. Künzel trat vor Silvy hin.
„Meine liebe Dame, das ist eine sehr... sehr schlimme Beschuldigung. Ich hoffe,
du bist dir darüber klar, und ich nehme an, daß du deine Behauptung auch durch
Beweise untermauern kannst?“
„Nein“, mußte Silvy zugeben,
„aber ich weiß es ganz genau! Ruth ist keine solche Leuchte in Mathematik, daß
sie eine Eins geschrieben haben könnte, wo ich nur eine Zwei habe...“
Dr. Künzel fiel ihr ins Wort.
„Mit diesen Ausführungen, Heinze, überzeugst du mich überhaupt nicht. Setzen.“
Silvy stampfte mit dem Fuß auf.
„Aber ich verlange eine Untersuchung! Es ist doch eine Gemeinheit, daß Ruth
eine bessere Note bekommen hat wie ich, wo ich viel mehr kann als sie und mich
so besonders gut vorbereitet habe!“
„Im Komparativ steht immer
,als’„, murmelte Katrin mit Grabesstimme.
Die Spannung löste sich in
einem zaghaften Gelächter.
„Du bist eine recht schlechte Verliererin,
Heinze“, sagte Dr. Künzel.
„Ich kann verlieren, wenn alles
mit rechten Dingen zugeht“, behauptete Silvy, „was mich ärgert, ist ja bloß
diese gemeine Mogelei.“
„Du erwartest also von mir, daß
ich ein regelrechtes Verhör anstelle?“
„Ja.“
„Und wer soll deiner Meinung
nach auf die Anklagebank?“
„Katrin und Ruth, alle beide.“
Dr. Künzel nahm seinen Zwicker
ab und polierte die Gläser nachdenklich mit seinem Taschentuch. „Das scheint
mir keine gute Idee!“
Plötzlich kam Leben in Leonore;
sie vergaß für einen Moment ihren eigenen Kummer. „Stimmt!“ rief sie. „Weil
Angeklagte lügen dürfen!“
Silvy fuhr herum. „Das ist doch
nicht wahr!“
„Doch! Und wenn ich mich nicht
täusche, habe ich dir das schon einmal erklärt. Vor einem deutschen Gericht hat
jeder Angeklagte das Recht, so viel zu lügen, wie er will. Nur die Zeugen
müssen die Wahrheit sagen... und hast du etwa einen Zeugen, der Ruth und Katrin
beschuldigen würde?“
Silvy blickte sich in der
Klasse um. „Aber bestimmt hat jemand gemogelt.“
„Es ist nur die große Frage, ob
jemand ausgerechnet
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