Silvy will die Erste sein
Mädchen aus dem Unterholz gekrochen und
von den Jungen angeblich zuerst für zwei Wildschweine gehalten worden waren.
Es ist nicht verwunderlich, daß
die beiden sich über diese Neckereien ärgerten.
Silvy kränkte sich übrigens
entschieden mehr als Leonore, denn sie hatte sich in den Standpunkt verrannt,
daß man ihr bitter unrecht tat, während Leonore einsah, daß sie sich falsch
verhalten hatte und darauf verzichtete, die Hauptschuld auf die Freundin
abzuladen, was nach Lage der Dinge ja sehr nahegelegen hätte.
Leonore hatte andere, größere
Sorgen. Es hatte sich herausgestellt, daß ihre Mutter sehr viel länger im
Krankenhaus bleiben mußte, als sie anfangs gedacht hatte. Das Bein war falsch
zusammengewachsen, der Gips hatte abgenommen und der Knochen noch einmal
gebrochen werden müssen. Da der Fall so kompliziert lag, durfte Frau Müller
auch nicht mit dem neu eingegipsten Bein, wie es sonst üblich war, nach Hause,
sondern mußte in klinischer Betreuung bleiben, auch als die Folgen der
Gehirnerschütterung schon abgeklungen waren.
Für Frau Müller selber war das
nicht gar so schlimm, denn sie hatte jetzt keine Schmerzen mehr, und obwohl sie
ungeduldig war und sich Sorgen wegen ihrer Familie machte, genoß sie doch auf
diese Weise einen Urlaub von ihren täglichen Pflichten, wie sie ihn sich ohne
Zwang ganz sicher nie gegönnt hätte, obwohl sie ihn tatsächlich schon längst
nötig gehabt hatte.
Die Hauptlast lag jetzt auf
Leonores Schultern, die, nur mit Hilfe einer Putzfrau und der ziemlich
unwilligen Unterstützung der Zwillingsbrüder, den Haushalt in Gang halten und
immer wieder ins Krankenhaus jagen mußte, um die Mutter zu beruhigen und neue
Anweisungen entgegenzunehmen.
So schien ihr, nachdem sich
herausgestellt hatte, daß Frau Dr. Mohrmann darauf verzichtet hatte, die Eltern
zu benachrichtigen, die ganze Aufregung reichlich kindisch, und sie setzte
alles daran, Silvy zu ihrem Standpunkt zu bekehren. Aber damit biß sie bei der
Freundin, die die Blamage nicht verwinden konnte, auf Granit. Silvy, der so
viel daran lag, stets die erste Geige zu spielen, wollte sich mit dieser
Schlappe nicht abfinden.
Noch stärker als früher setzte
sie nun alles daran, die anderen auszustechen. Da sie sportlich nicht besonders
auf der Höhe war, nicht die Hübscheste der Klasse und, obwohl sie als einziges
Kind von ihren Eltern recht verwöhnt wurde, auch nicht die Schickste — Ruth und
Olga waren ihr da weit voraus — , gab es nur ein Gebiet, auf dem sie sich
hervortun konnte, nämlich im Unterricht. Sie lernte, bis ihr der Schädel
brummte — nicht, weil sie sich wirklich für den Lehrstoff interessierte,
sondern nur, um vor den anderen zu glänzen. In der Stunde flog ihr Finger
immerzu in die Höhe, und am liebsten hätte sie niemand anderen zu Wort kommen
lassen.
Aber Frau Dr. Mohrmann ließ es
nicht zu, wenn eine der Schülerinnen sich so in den Vordergrund drängen wollte,
und Silvy konnte sich melden, so oft sie wollte, aufspringen, fast nach vorne
laufen und mit den Fingern schnalzen, sie wurde doch nicht öfter aufgerufen als
die anderen. Das gab ihr wieder neuen Grund, sich zu ärgern. ’
„Mensch, was machst du denn für
ein Gesicht?“ fragte Katrin, als sie eines Tages nach der Deutschstunde zur
großen Pause in den Hof hinunterschoben.
„Tu doch nicht so
scheinheilig!“ fauchte Silvy sie an. „Als ob du nicht genau wüßtest, was hier
gespielt wird.“
„Gespielt?!“ Katrin riß die
Augen auf. „Nee, ehrlich, keine Ahnung. Ich habe überhaupt nicht gemerkt, daß
gespielt worden ist. Ich dachte, wir hätten gelernt.“
„Spar dir deinen billigen
Spott“, zischte Silvy.
Katrin drehte sich zu Ruth und
Olga um, die hinter ihr die Treppe herunterkamen. „Nun mal ehrlich! Könnt ihr
mir erklären, was in unsere Pfadfinderin gefahren ist?“
Leonore legte ihren Arm um
Silvys Schulter. „Hör auf mit deinen blöden Witzen, Katrin!“ rief sie. „Die
haben doch längst so einen Bart!“
„Vielleicht ärgert Silvy sich,
daß Mohrchen sie nicht groß werden läßt“, mutmaßte Ruth.
Silvy schüttelte Leonores Arm
von ihrer Schulter. „Tut doch nicht so, als wenn ihr nicht längst alle gemerkt
hättet, daß sie einen Pik auf mich hat!“
„Wer?“ fragte Olga. „Ehrlich,
kommt ihr da mit?“
„Silvy bildet sich ein, daß
Mohrchen sie zurücksetzt“, erklärte Katrin in einem Ton, als müßte sie diesen
Satz aus einer Fremdsprache übersetzen.
„Das bilde ich mir
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