Silvy will die Erste sein
überhaupt, was geht dich das an?“
„Olga, du weißt doch, daß ich
im Recht bin! Nun hab doch auch den Mut, dich auf meine Seite zu stellen. Du
kannst doch nicht so ein... so ein moralischer Feigling sein.“
„Denk von mir, was du willst!“
rief Olga und riß sich los. „Ich kann es dir nicht sagen!“ Sie rannte
blindlings davon.
Silvy stürzte ihr nach, aber
nach ein paar Metern verlangsamte sie ihren Schritt. Sie begriff, daß sie, selbst
wenn es ihr gelänge, Olga einzuholen, nichts aus ihr herausbekommen würde. Sie
mußte sich etwas anderes ausdenken, um Olga zum Sprechen zu bringen, denn daß
sie etwas Wichtiges wußte, was sie vor ihr verbarg, das schien ihr nach diesem
Gespräch sonnenklar geworden.
Während sie über ihren
Schularbeiten saß, kam ihr eine Idee. Olga sammelte Kakteen. Vielleicht war
über diese Liebhaberei an sie heranzukommen. Silvy inspizierte ihre eigenen
Kakteen und entschied sich für einen kleinen Ableger, den sie erst vor wenigen
Tagen umgetopft hatte.
Normalerweise pflegte sie immer
zuerst ihre Aufgaben zu erledigen, bevor sie etwas anderes unternahm, aber
heute war sie zu nervös. Sie wagte nicht, Olga anzurufen und auf ihren Besuch
vorzubereiten, aus Angst, eine Absage einstecken zu müssen, und wenn sie zu
lange wartete, konnte es ihr passieren, daß Olga schon ausgeflogen war.
So klappte sie also
entschlossen ihr Deutschheft zu, stellte den Blumentopf mit der kleinen Kaktee
in einen Plastikbeutel, rief ihrer Mutter zu, daß sie verabredet sei, und
machte sich aus dem Staub. Es war ein herrlicher Sommertag, und sie brauchte
weder Jacke noch Mantel anzuziehen, sondern konnte sich, so, wie sie war, in
ihrem ärmellosen gestreiften Leinenkleid .auf den Weg machen.
Olga wohnte ein ganzes Stück
weiter draußen, und Silvy fühlte sich durchaus nicht wohl in ihrer Haut, als
sie zehn Minuten später an Helwigs Wohnungstür klingelte. Sie hatte Olga bisher
nie ohne .Voranmeldung aufgesucht, denn so dick befreundet waren sie eigentlich
gar nicht. Sie kam sich ziemlich blöd vor und hätte sich am liebsten auf der
Stelle wieder umgedreht, aber ihre Neugier und ihr Selbsterhaltungstrieb waren
stärker.
Endlich öffnete Frau Helwig,
und sie verbarg ihr Erstaunen nicht, Silvy vor sich zu sehen. „Guten Tag,
Silvy! Du willst sicher Olga besuchen?“
„Hoffentlich... hoffentlich
störe ich nicht...“, stotterte Silvy. „Ja, weißt du, Olga sitzt noch bei ihren
Schulaufgaben. Sie braucht immer ziemlich lange dazu. Bist du denn schon
fertig?“
„Nein, ich...“ Silvy hob ihren
Plastikbeutel hoch, „ich habe gerade entdeckt, daß meine Lobivia cerasiflora
einen Ableger hat, und weil ich doch weiß, daß auch Olga sammelt, da habe ich
ihn rasch umgetopft und wollte ihn nur schnell vorbeibringen“, behauptete Silvy
und merkte gar nicht, daß sie sich in eine faustdicke Lüge flüchtete, wie sie
auch Katrin nicht besser hätte erfinden können.
Sie tat ihre Wirkung; Frau
Helwigs Herz schmolz dahin. „Das ist aber wirklich reizend von dir, Silvy“,
sagte sie, „dann komm nur herein. Olga sitzt auf dem Balkon. Allzulange wirst
du sie ja nicht aufhalten, nicht wahr?“
„Nein, bestimmt nicht“,
versprach Silvy erleichtert.
Olga hatte es sich sehr
gemütlich gemacht. Sie war im Badeanzug, saß im Schatten einer Markise, ein
Glas Limonade mit Strohhalm neben sich, und wenn sie nicht einige Bücher um
sich aufgebaut hätte, wäre niemand auf den Gedanken gekommen, daß sie
Schulaufgaben machte.
„Hallo, Silvy“, sagte sie,
durchaus nicht überrascht, „komm, platz dich!“
„Ich wollte nur...“
Aber Olga war nicht bereit, es
Silvy so leicht zu machen; sie kostete die Situation, die ihr so ungewöhnliche
Macht verlieh, gründlich aus.
„Psst!“ sagte sie. „Ich bin
gleich fertig.“
Silvy setzte sich in einen der
bequemen Korbstühle und preßte die Lippen zusammen. Sie ärgerte sich gewaltig,
daß Olga sie so zappeln ließ, und war fest entschlossen, es ihr und den anderen
heimzuzahlen, wenn sie erst das große Geheimnis entschleiert haben würde.
Nach einiger Zeit erschien Frau
Helwig auf dem Balkon und brachte auch für Silvy ein Glas Limonade. „Aber
Olga“, sagte sie verständnislos, „willst du dich denn nicht um deinen Besuch
kümmern?“
Olga lächelte zu ihr auf.
„Gleich, Mutti! Ich möchte nur erst meine Aufgaben fertigmachen.“
„Brav, Liebling!“ Frau Helwig
strich ihrer Tochter über das leuchtend rote Haar. „Wenn du ein bißchen
Weitere Kostenlose Bücher