Simon Schweitzer - immer horche, immer gugge (German Edition)
früher. Wie sie nach und nach den Wald besetzt hatten, in Nacht- und Nebelaktionen das Hüttendorf aufbauten und erweiterten, den Haushalt nach überzähligem Geschirr durchforsteten, um es dann rucksackweise dem Widerstand zuzuführen. Wie sie bei klirrender Kälte Wache schoben, meist zu zweit. Und überall diese Scheinwerfer, welche die Szenerie um die stacheldrahtbewehrte Betonmauer in gleißendes Licht tauchte. Und sie wurden immer mehr, an Sonn- und Feiertagen schienen sich sämtliche betroffenen Gemeinden mit Kind und Kegel im Wald einzufinden.
Noch nie vorher hatte es eine solch breite Protestbewegung in Deutschland gegeben. Quer durch alle Parteien, durch alle Religionen, durch alle Generationen und durch sämtliche sonstigen Weltanschauungen war der Geist der praktizierten Demokratie gelaufen. Im Rückblick wirkte vieles verklärter, wie ein schwarzweißer Dokumentarfilm mit klassischer Musik als Untermalung. Simon Schweitzers Herz wurde schwer.
Dann kam die Räumung, an der alle Polizisten der Republik beteiligt waren. Schon heute sprechen Teile der Geschichtsschreibung vom letzten und alles entscheidenden Kampf gegen das aufmüpfige Volk. Daß der Volksentscheid mit abstrusesten Argumentkonstruktionen abgelehnt wurde, fiel da schon nicht mehr weiter ins Gewicht. Der Todesstoß allerdings, der die ganze Bewegung in ihre Einzelteile zersplittern sollte, kam von einem Unbekannten. Zwei heimtückisch gemordete Polizisten, welche die ganze Wut auf den Staat oder das, was sich dafür hielt, abbekamen, waren das Resultat eines unkontrollierten Gewaltexzesses. Der Schütze, der im Schutz des Restwaldes diese Tat begangen hatte, konnte bis heute nicht ermittelt werden.
Für Herrn Schweitzer war die schlichte Negierung des Mehrheitswillens mit den abenteuerlichsten Mitteln das Ende jedweder Demokratie, die sich für ihn seit Ende des Weltkrieges sowieso gerademal nur im Versuchsstadium befunden hatte. Simon Schweitzer hatte sich dann, um seines seelischen Gleichgewichts willen, von der Politik losgesagt.
So war das damals, dachte er und er dachte auch, daß er es sich mittlerweile ganz gut im Leben eingerichtet habe. Und zu dieser Einrichtung gehörte ein Klaus-Dieter Schwarzbach mit Sicherheit nicht. Ein Mann, der seinerzeit bei den Kommunisten an der Uni das Reden und Agitieren gelernt hatte, dann während der Startbahnzeit die Alternativen im Sachsenhäuser Ortsbeirat vertreten hatte und der dann der Karriere und Profilierungssucht wegen erst zu den Sozialisten und später zu den Konservativen gewechselt war. Und nun war dieses fiese Lächeln drauf und dran, nächster Frankfurter Oberbürgermeister zu werden. Denn auf dieses Lächeln wurde Schwarzbach von der für den Wahlkampf zuständigen Werbeagentur reduziert. Blond, modische Brille, schwulstige Lippen und Lächeln, was das Zeug hielt. Noch mehr haßte ihn Herr Schweitzer aber wegen seines großen Erfolges bei Frauen. Und damals hatte Schwarzbach dem Hollerbusch ja seine Karin ausgespannt, im Hüttendorf, derweil Guntram Hollerbusch mit ihm, Simon Schweitzer, auf Wache war. Die Weibchen suchen sich nun mal die stärksten Männchen aus, hatte Klaus-Dieter, zur Rede gestellt, dann lapidar von sich gegeben. Und heute war Guntram Pfarrer der Gemeinde des Barmherzigen Heilands von Nazareth und Umgebung, und Karin stand kurz vor der Leberzirrhose, dachte Simon Schweitzer traurig, von der Vergangenheit überrumpelt. Von ihm aus konnte Schwarzbach für immerdar von der Bildfläche verschwunden bleiben. Arschloch, blödes.
Ein schwacher süßlicher Geruch drang in seine Nase. Irgendwo hatte er neulich gelesen, die Jugend würde sich wieder verstärkt dem Marihuanagenuß widmen. Vergeblich versuchte er, den oder die Konsumenten auszumachen. Er fühlte sich wohl in der Gegenwart und ließ seinen Blick wohlwollend über das Jungvolk schweifen. Er beneidete sie nicht wegen ihrer Jugend, sonders ob des Fehlens politischer Niederlagen in ihrem Erfahrungsschatz. Ein Junge mit Ziegenbart in einem hellgrünen Sportshirt lächelte ihn an. Simon Schweitzer lächelte zurück. Das Leben war schön. Die Vergangenheit ließ zu wünschen übrig, aber sie würde ja nicht wiederkommen. Oder?
Herr Schweitzer blickte auf eine Wanduhr klassisch Bauhaus und stellte erstaunt fest, daß er beinahe zwei Stunden hier war. Aus Scham über seinen geringen Konsum gab er großzügig Trinkgeld. Ach, sind die nett, die jungen Leute. Da kann man doch mal wieder reinschauen ins Troubadour. Und
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