Simon Schweitzer - immer horche, immer gugge (German Edition)
Unfall geschah hinter der Ziellinie – just in dem Augenblick die Kontrolle über sein Gefährt verlor, als Angie und Hans um die Ecke gebogen kamen. Während Angie und der Unfallverursacher, der wegen seines pickeligen Jünglingsgesichtes dringlich eines Männlichkeitsbeweises bedurft hatte, so gut wie unverletzt geblieben waren, mußte Hans von der Feuerwehr aus dem blauen Mercedeswrack herausgeschnitten werden, gerade noch rechtzeitig, sonst wäre er verblutet. Als Täter-Opfer-Ausgleich wurde eine Strafe von dreißig Tagessätzen, neun Monaten Führerscheinentzug und hundert Stunden Sozialdienst für angemessen gehalten, der Crashpilot hatte sich bis dato kaum etwas zuschulden kommen lassen. Kein Banküberfall, kein Tötungsdelikt, nichts dergleichen. Hans Hagedorn hatte das alles relativ gelassen hingenommen, als wäre nichts weiter passiert, als in China ein Sack Reis umgefallen. Vielleicht half ihm da ja sein Glaube an Gott.
Simon Schweitzer hatte den Teller leergegessen, und Angie räumte das schmutzige Geschirr weg. Sein Schwager holte einen Block hervor.
„Karin Schwarzbach war heute vormittag hier. Kann das sein, daß die ein bißchen …“ Hans machte mit dem Zeigefinger einige Kreisbewegungen in Höhe der Schläfe.
„Ja, sie scheint ein wenig neben der Spur zu laufen“, erwiderte Simon Schweitzer diplomatisch, „aber das ist ja auch kein Wunder, bei dem, was sie gerade durchmacht.“
„Aber unabhängig davon …, na ja, egal.“ Hagedorn machte eine wegwerfende Handbewegung. „Auf alle Fälle ist auch ihr Hausmädchen verschwunden. Eine Polin.“
Letzteres klang für Simon Schweitzer wie eine Erklärung dafür, warum es auf der Welt so schlecht zuging. Er glaubte hin und wieder, bei seinem Schwager rechtes Gedankengut zu erkennen, aber so richtig beweisen ließ sich das nicht. Trotzdem blieb oft ein ungutes Gefühl bei Simon Schweitzer zurück. Um Hans zum Weiterreden aufzufordern, sagte er zögernd: „Ja?“
„Die Polizei ermittelt natürlich auch in dieser Richtung.“
„Davon hat gar nichts in den Zeitungen gestanden.“
„Man verspricht sich wohl mehr davon, die Spur unauffällig zu verfolgen.“
Angie kam zurück und setzte sich aufs Sofa. Mit der Hand richtete sie ihre kastanienbraunen Haare. Herr Schweitzer fragte sich, was die beiden verband. In über zwanzig Jahren Ehe hatte er sie nicht einmal streiten hören.
„Ist das nicht schrecklich?“ fragte Angie in die Stille.
Simon Schweitzer sah seinen Schwager an, aber der hatte offensichtlich keine Lust zu antworten. „Ja schrecklich. Was die arme Frau so mitmachen muß.“
„Was glaubst du, ist passiert?“
„Ich hab wirklich keinen blassen Schimmer, Angie. Aber ich glaube, das Ganze wird sich bald aufklären.“
„Hoffentlich.“
Simon Schweitzer hatte den Eindruck, daß seine Schwester in den letzten Tagen noch dünner geworden war. Wie er sie kannte, litt sie momentan mit Karin Schwarzbach, Angie war in jeder Hinsicht sehr emotional veranlagt.
Die Unterhaltung schleppte sich so dahin. Sobald Herr Schweitzer das Gefühl hatte, ein Aufbrechen seinerseits würde nicht als Unhöflichkeit aufgefaßt werden, verabschiedete er sich hurtig.
Draußen nahm er das schöne Wetter wahr. Einige Häuser weiter wies ein Schild darauf hin, daß dieses Haus bis zur Machtergreifung der Nazis dem damaligen Bürgermeister Ludwig Landmann als Heimstatt diente, der seiner jüdischen Abstammung wegen nach Holland emigrieren mußte. Und so einer wie Schwarzbach genießt hier heutzutage Anerkennung, dachte Simon Schweitzer bitter, lernt dieses Volk nichts dazu?
Wenig später stand er vor einem Geschäft, in dessen Schaufenster Fernsehgeräte flimmerten. Auf einem Bildschirm war Klaus-Dieter Schwarzbach mit einem Gesprächspartner zu sehen. Interview vom 3. April, war unten eingeblendet. Urplötzlich erschauderte Simon Schweitzer bei dem Gedanken an die Endlichkeit irdischen Lebens. Es ist schon seltsam, überlegte er, wie nahe ihm die Sache ging, und das nur, weil er den Vermißten vor langer Zeit höchstselbst gekannt hatte. Dann wurde ein Standbild mit dem jägergrünen Geländewagen gezeigt. Er konnte sich den Text dazu denken, vielfach hatte er ihn am Frühstückstisch gelesen. Erst jetzt fiel ihm auf, daß die einzige Information, die er von seinem Schwager bekommen hatte, die war, daß nach dem polnischen Hausmädchen gefahndet wurde. Schmerzlich wurde Simon Schweitzer sich seiner Rolle als einziger Intimus der Hagedornschen
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