Simon Schweitzer - immer horche, immer gugge (German Edition)
gestern?“
Exakt das war es, was ihn beschäftigte. „Ja.“ Frederik Funkal hatte enorm viel Chaos verursacht.
Man verabredete sich für spätabends. Simon sollte anrufen, wenn ihm danach sei. Tschüß. Küßchen.
Die Tür war ins Schloß gefallen. Der Widerhall von Marias Schritten verebbte im Hausflur. Herr Schweitzer fühlte sich in der eingetretenen Stille auf sich selbst zurückgeworfen. Meistens war das nicht weiter tragisch, denn er war ja ein gestandenes Mannsbild, und den Widrigkeiten des Daseins hatte er generell etwas entgegen zu setzen. Doch die Ereignisse der letzten Tage hatten unseren Helden derart schnell und nachhaltig überrollt, daß ihm keine Zeit für Ordnung geblieben war, von Reflexion ganz zu schweigen. Kein kindlicher Maßstab von gerecht und ungerecht stand ihm im Wege, nein, er mußte einfach nur dringlich in seinem Kopf aufräumen, jeden Gedankenfetzen an den dafür vorgesehenen Ort plazieren, dann stellte sich auch der Überblick wieder ein.
Der Mensch weiß oft, was ihm hilfreich ist, allein, er muß sich überwinden, und das kostet Kraft. Davon war auch ein komplexes Gefüge, wie der Schweitzer-Simon eines war, nicht befreit. Das wußte er seit alters her. Folglich seufzte er schwer, zog sich die Schuhe an und begab sich auf den Weg zur Straßenbahnhaltestelle. Straßenbahn fahren macht nämlich frei. Nicht jeden, aber Simon Schweitzer.
Noch bevor er einstieg, es handelte sich diesmal um ein O-Tw-905-Zweirichtungsfahrzeug, hatte er Ballast wie seine neue Beziehung über Bord geworfen. Einzig und allein dem Schwarzbachfall galt seine Aufmerksamkeit. Die Bahn fuhr an, Herr Schweitzer saß auf einem gekennzeichneten Behindertenplatz. Dann legte er los. Ganz von vorne, denn das war der Chronologie sehr nützlich. Mit Anfang war sein Spaziergang vor zehn Tagen gemeint, als er in den Sachsenhäuser Gärten auf dem Weg zum Goetheturm eine lieblich und sachte im leichten Winde schaukelnde Strohpuppe irrtümlich für eine lieblich und sachte im leichten Winde schaukelnde Strohpuppe gehalten hatte, und nicht für einen hinwegfüsilierten Stadtverordneten, dessen Mitstreiter er einst gewesen war.
Die Haltestelle Louisa wurde passiert, Kleingärten säumten die Gleise, und die Bahn tauchte in den Wald, wo das Gleisbett auf Schotter ruhte und das monotone Rattern der Räder rauher wurde.
Alles, was Polizeiobermeister Frederik Funkal, sein Kollege Odilo, Karin Schwarzbach, ihre Schwester Hannelore, Apostel Guntram Hollerbusch, der aus der Versenkung wieder aufgetauchte Daniel Fürchtegott Meister und viele andere im Laufe der letzten Tage von sich gegeben hatten, rief sich Herr Schweitzer ins Gedächtnis zurück, unabhängig von einer luziden Relevanz.
An der Endstation Neu-Isenburg blieb er einfach sitzen. Niemand kümmerte sich um ihn. Er selbst war früher immer noch einmal durch den Zug gelaufen, um vergessene Gegenstände einzusammeln. Ein Regenschirmmuseum hätte er auf seine alten Tage eröffnen können. Oder um Fahrgäste zu wecken, die warum auch immer eingeschlafen waren. Aber jetzt war er froh, daß er einen Fahrer erwischt hatte, der sich darum nicht scherte.
Nach der gesetzlich vorgeschriebenen Pause fuhr die Straßenbahn mit einem Ruck wieder an. Nun kämmte er die Radio- und Zeitungsnachrichten der letzten Tage nochmals nach Hinweisen durch, die er möglicherweise unbeachtet gelassen hatte, aber ohne Erfolg. Nichts deutete darauf hin, daß Polizeiobermeister Frederik Funkal gestern abend im Frühzecher nicht die Wahrheit gesagt hatte. Doch Herr Schweitzer konnte sich partout nicht mit der Idee anfreunden, daß der Frankfurter Stadtverordnete und als künftiger Oberbürgermeister gehandelte Klaus-Dieter Schwarzbach zwei Polizisten erschossen haben sollte. Nein, was immer man von diesem impertinenten Idioten auch gehalten haben mochte, für einen Mord mangelte es ihm definitiv an Profil und Mut. Klaus-Dieter war ein Mann des Wortes, jemand, der reden und überzeugen konnte, jemand, der Intrigen spann, Lügenmärchen erzählte, Menschen begeistern konnte, jemand, der Freunden die Freundin ausspannte und immer und überall nur seinen eigenen Vorteil im Visier hatte. Er war ein Mensch, dem die Macht der Sprache in die Wiege gelegt worden war und der diese Macht mißbrauchte, wie so viele andere Politiker in diesem Lande auch. Herr Schweitzer befand, Schwarzbach hatte zu Recht gebaumelt, und dies war doch schon einmal ein recht gelungenes vorläufiges Resümee. Diese
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