Simon Schweitzer - immer horche, immer gugge (German Edition)
konnte. Logisch, sagte sich Herr Schweitzer. Bin ich blöd, ergänzte er. Die einzig andere mathematische Lösung hätte darin bestanden, den Mord an ihrem Mann und eine Hälfte des Doppelmordes zu verhindern. Letzteres hätte sich aber nur bewerkstelligen lassen, wäre man unmittelbar am Tatort präsent gewesen und hätte den Täter vor Ausführung des zweiten Mordes zurückhalten können. Vollkommen absurd. Aber auch hier drängte sich Klaus-Dieter als Täter auf. Und der war er ja laut Herrn Schweitzer nie und nimmer. Dann durchfuhr jäh ein weiteres Erinnerungsfragment sein Hirn, von dem er für einen ganz kurzen Moment sicher war, daß es ihm den Täter offenbarte.
Simon Schweitzer wollte seine bequeme Ruheposition verlassen, um in der alten Teekanne-Blechdose, wo er allerlei Krimskrams wie Eintrittskarten, keinem Fotoalbum zuzuordnende Fotographien, vergilbte Paßbilder und Postkarten aufbewahrte, nach möglichen Beweisen für eine Täterschaft seines nagelneuen Hauptverdächtigen zu suchen. Leider klingelte zur selben Zeit das Telefon, und aus dem abrupten Aufrichten seines Körpers wurde ein rasender Bewegungsablauf, der einem Herrn dieses Alters nicht gut zu Gesichte stand. Abgesehen davon war der Dübel in der Wand seinem Gewicht plus der pfeilschnellen Gewichtsverlagerung nicht gewachsen. Herr Schweitzer saß aufrecht, als er das Knirschen vernahm. Sofort richtete sich sein Blick auf den Haken etwa zwei Meter vor ihm, der sich millimeterweise samt Dübel, Hängemattenschlaufe und daran angeknüpftem Seil knirschend auf ihn zu bewegte.
Herrn Schweitzers letztes Stündlein hatte geschlagen, daran gab es nun nichts mehr zu rütteln. Er schloß die Augen und bereitete sich darauf vor, im Kielwasser des Todes in irgendwelche Abgründe zu segeln. Das Knirschen wurde heller, also schneller. Er kam nur bis zu den ersten drei, vier Silben des Vaterunsers, der Rest wäre ihm aber sowieso nicht eingefallen. Dann schlug erbarmungslos die Schwerkraft zu. Ein fürchterlicher Blitz durchzuckte sein Steißbein, und Herr Schweitzer wähnte sich kurz in der ewigen Verdammnis. Allein die Vernunft bewahrte ihn vor einer Ohnmacht. Nachdem sich der Radau gelegt hatte, segelte noch eine deformierte Dübelhälfte in seinen Schoß.
Das Telefon hatte zu klingeln aufgehört. Simon Schweitzer besah sich den Schaden. Der Haken hinter ihm hatte die Katastrophe heil überstanden. Er wurschtelte sich aus dem Tauwerk. Dann stand er vorsichtig auf. Sein Allerwertester war in Mitleidenschaft gezogen worden, da bestand kein Zweifel. Es schmerzte beim Gehen. Aber wie sollte er Laura das Malheur erklären? Da mußte man wohl der Wahrheit die Ehre geben und ein Geständnis ablegen.
Herr Schweitzer klingelte bei Güney, seinem türkischen Nachbarn, und erbat dringlich Hilfe. Eine Stunde später war der Schaden behoben, doch der Gebrauch der Hängematte für die nächsten vierundzwanzig Stunden nicht gestattet, da der Gips noch aushärten mußte. Herr Schweitzer schrieb ein paar Zeilen an Laura, in denen er die Desasterumstände rudimentär erklärte.
Alsbald war das Trauma verarbeitet, und Simon Schweitzer konnte ohne psychiatrische Begleitung in den Alltag zurückkehren. Ach ja, die Teekanne-Blechdose mit den Postkarten. Er begab sich in sein Zimmer, öffnete die gotische Stollentruhe des ausgehenden fünfzehnten Jahrhunderts und entnahm ihr die Dose. Dann legte er sein Kopfkissen auf den Boden und ließ sich im Schneidersitz darauf nieder. Der Schmerz war auszuhalten.
Wie immer, wenn der Mensch nach Pretiosen aus seiner Vergangenheit sucht, läßt er sich auch gerne von anderen Erinnerungsstücken jedweder Epoche ablenken. So erging es auch Herrn Schweitzer. Er las Postkarten von irgendwann in der Geschichte verlorengegangenen Freunden, Liebesbriefe in Jungmädchenschrift, besah sich Fotos, auf denen ihm bekannte Personen irre Klamotten und völlig indiskutable Frisuren trugen, und seine Gedanken lotsten ihn hier- und dorthin.
Es war voraussehbar, daß sich die Postkarte, nach der er suchte, im letzten Stapel befand. Er löste das Gummiband und hielt sie in den Händen. Die Unterschrift stimmte, und wenn es auch eine Klaue war, so war sie doch leserlich.
Die Karte aus Perugia zeigte die Kirche Sant’Angelo aus dem fünfzehnten Jahrhundert vor strahlend blauem Himmel. Herr Schweitzer untersuchte den Poststempel. Das Datum auf der Briefmarke mit dem Kopf des Mathematikers Francesco Severi war gut leserlich. Automatisch nickte er mit dem
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