Sind Sie hochsensibel?
Unsicherheiten äuÃern sich entweder in der Vermeidung von Nähe oder im zwanghaften Wunsch, mit dem Partner zu verschmelzen, sowie in der Angst davor, verlassen zu werden. Wenn man sich aufmacht in die Welt und die langersehnte Sicherheit sucht, ohne jegliche Erfahrung und ohne Vorstellung von dem, was man überhaupt sucht, passiert es einem häufig, dass man immer wieder denselben Fehler macht. Oft sucht man sich immer und immer wieder dieselbe Art von Menschen aus, die einem genau das Gegenteil, nämlich das Gefühl von Unsicherheit, vermitteln.
Ich habe zwar eine leichte Tendenz festgestellt, dass mehr HSM als Nicht-HSM im Erwachsenenalter Schwierigkeiten haben, sichere Bindungen einzugehen, aber das bedeutet nicht, dass allein ihre Sensibilität hierfür verantwortlich ist. 59 Dieses Verhältnis spiegelt wahrscheinlich nur wider, dass ein sensibles Kind unterschwellige Informationen in Beziehungen eher wahrnimmt als weniger sensible Kinder. Als hochsensibles Kind bestand eine der wichtigsten Erfahrungen betreffs Ihrer Bezugsperson wahrscheinlich darin festzustellen, ob diese Sie bei nervlicher Ãbererregung zu beruhigen vermochte oder ob aufgrund des Verhaltens der Bezugsperson gar eine Steigerung Ihrer Ãberreizung ausgelöst wurde. Jeder Tag hielt mindestens eine neue Lektion für Sie bereit.
In seinem
Tagebuch eines Babys
(wie im 3. Kapitel beschrieben) gibt Stern ein Beispiel für eine âwortlose Zwiespracheâ zwischen dem fiktiven Joey und seiner Mutter. Die Mutter gurrt, kommt ganz nah mit ihrem Gesicht heran und dreht sich wieder weg. Joey lächelt, jauchzt und erwidert dieses Spiel. Irgendwann wird es ihm zu viel. In diesem Moment der Ãbererregung bricht Joey den Augenkontakt ab und schaut weg, um seine Nerven zu beruhigen. Hier bedient sich Stern wieder der Analogie des Wetters. Die Mutter wird beschrieben als Wind, der über dem Kind weht. Die Ãberstrapazierung der Nerven Joeys stellt sich Stern in folgendem Tagebucheintrag vor:
Aber schon stürmt ihre nächste Böe auf mich zu, den Raum und alle Geräusche aufpeitschend. Sie hat mich erreicht â nun erfasst sie mich. Ich versuche ihrer Gewalt standzuhalten und mit ihr Schritt zu halten, aber sie schüttelt mich durch und durch. Ich zittere, mein Körper weicht ihr aus. Einen Augenblick zögere ich. Dann drehe ich ab und wende dem Wind meinen Rücken zu. Ganz allein gleite ich nun in stille Gewässer. 60
Das sollte Ihnen allen jetzt bekannt vorkommen: Joey versucht sein optimales Erregungsniveau zu erreichen â wie im 1. Kapitel beschrieben. Wer mit Säuglingen zu tun hat merkt das normalerweise. Wenn ein Baby unruhig oder gelangweilt ist, erfindet man solche Spielchen wie die wortlose Zwiesprache, man zieht vielleicht Fratzen oder greift langsam nach dem Kind mit den Worten: âJetzt krieg ich dich!â. Der Erwachsene ist begeistert, wenn das Kind vor Vergnügen quietscht. Es gibt auch die Theorie, dass es sich gut auf das Selbstbewusstsein und die Flexibilität des Kindes auswirkt, wenn es so die Grenzen seiner Belastbarkeit erforschen kann. Wenn der Säugling aber gequält wirkt, hören die meisten Erwachsenen auf.
Jetzt denken Sie bitte an unseren imaginären hochsensiblen Jesse! Die wortlose Zwiesprache zwischen ihm und seiner Mutter ist vermutlich nicht viel anders, vielleicht nur etwas ruhiger und kürzer. Jesses Mutter wird ihre Spielweise darauf eingestellt haben, dass Jesse sich wohl fühlen kann.
Was passiert aber, wenn andere mit Jesse spielen? Stellen Sie sich seine ältere Schwester oder den GroÃvater vor, die dieses Spielchen etwas intensiver betreiben. Was passiert, wenn Jesse seinen Blick abwendet â seine Art nach einer Auszeit zu verlangen â und seine Schwester ihm dennoch so nahe kommt, dass sie sich direkt in die Augen sehen? Oder sie Jesses Kopf zu sich herumdreht? Vielleicht schlieÃt Jesse die Augen. Vielleicht macht seine Schwester Geräusche direkt in Jesses Ohr. Möglicherweise kitzelt ihn der GroÃvater oder er nimmt ihn aus dem Bettchen und wirft ihn ein paar Mal in die Luft.
Jesse verliert völlig die Kontrolle über sein Erregungsniveau. Und jedes Kreischen von Jesse wird gedeutet als: âEr findet es herrlich, ganz herrlich â er ist nur ein bisschen verdattert.â
Finden Sie es wirklich
herrlich
?
Haben Sie sich schon einmal in Jesses Lage versetzt? Welch eine
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