Sind wir nun gluecklich
das auch schmerzen oder irritieren, es wird der einzige Weg sein, um unsere Wunden zu heilen, und erst dann können wir unbeschwert in die nächste Schlacht ziehen. So sähe eine verantwortliche Haltung gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft aus.
Meine Motive für den zweiten Schlüsselbegriff, den der Ruhe, sind auch nicht gerade schwer nachvollziehbar, denn Frieden für unsere Seelen zu finden wird das größte Problem unserer Zukunft sein.
Im Zeitalter der großen Kriege des vergangenen Jahrhunderts kam das chinesische Riesenreich nicht zur Ruhe, und heute fällt es unserem riesigen Land noch immer schwer, Frieden für seine Psyche zu finden.
Wer keine Ruhe findet, kann auch nicht glücklich sein. Und auch deshalb ist in der Gegenwart Ruhe der größte Luxus.
Solange wir weiter nach Frieden und Glück suchen müssen, werden die Fragen, die uns auf der Seele brennen, nicht verschwinden.
Die Menschen des chinesischen Altertums waren klug. Sie versteckten in den chinesischen Schriftzeichen viele Mahnungen, die dort ihrer Entdeckung harren. Aus lauter Angst, dass die Mahnungen unbemerkt blieben, brannten unsere Urväter sie den Schriftzeichen ganz besonders deutlich ein. Nimmt man das Schriftzeichen mang für »blind« auseinander, erhält man die Bestandteile mu (»Auge«) und mang (»Verlust«); das heißt also, die Augen sind gestorben, und deshalb sieht man nichts mehr. Wenn man das Schriftzeichen »beschäftigt« auseinandernimmt, das ebenfalls mang gelesen wird und aus den Zeichen für »Herz« und »Verlust« besteht, könnte das also bedeuten: »Das Herz ist gestorben«? In der Tat sind alle Chinesen heutzutage sehr beschäftigt um des Erfolgs und des Ansehens willen. Deshalb wage ich selbst kaum das Wort mang wie »beschäftigt« in den Mund zu nehmen, denn wenn unser Herz gestorben ist, was soll dann noch die ganze Herumrennerei?
Dennoch sind alle immerzu beschäftigt und wissen nicht, was sie eigentlich so umtreibt. Und entsprechend hetzen sie weiter. Auf der Straße kann man oft beobachten, wie die Leute noch schnell über rote Ampeln fahren, nur um auf der anderen Seite schon wieder anhalten und warten zu müssen. Eigentlich haben sie gar keinen Grund zur Eile, aber es gehört einfach dazu zu hetzen, es ist längst eine verbreitete Gewohnheit.
Einer solchen Atmosphäre ist es geschuldet, dass offensichtlich die meisten Chinesen keine Geduld mehr aufbringen. Wer liest schon noch ein Buch zu Ende? Früher hatte jeder Zeit, Briefe zu schreiben oder Tagebuch zu führen. Später wurden daraus Kurznachrichten oder Blogs. Inzwischen haben wir es bereits nur noch mit Twittermeldungen zu tun, in denen jede Mitteilung auf 140 Zeichen reduziert ist, Austausch und Kommunikation werden kürzer und kürzer. Und selbst diese 140 Zeichen sind vielen noch nicht kurz genug, ihnen reicht es, einfach Schlagzeilen zu lesen, weswegen es nun bereits eine »Schlagzeilen-Community« gibt. Und was wird der nächste Schritt sein?
Ein älterer Herr sagte mir zu diesem Thema einmal: »Uns alle erwartet das gleiche Ende, und niemand kann ihm entkommen. Auch in aller Langsamkeit kommt uns das Leben kurz vor. Warum wollen dann die Chinesen bloß mit solcher Hast auf ihr Ende zueilen?«
In Mexiko kennt man eine Parabel, die uns sehr weit weg vorkommen mag und doch sehr nahe ist: Eine Gruppe von Leuten eilt eine Straße entlang. Plötzlich bleibt einer von ihnen stehen. Die anderen wundern sich und fragen: »Warum bleibst du stehen?« Er antwortet: »Ich war zu schnell, meine Seele ist hinter mir zurückgeblieben, ich möchte auf sie warten.«
Genau so ist es. Wir laufen viel zu schnell. Doch wer kommt darauf, einfach einmal innezuhalten? Wer zu weit gelaufen ist, vergisst womöglich, warum er überhaupt losgegangen ist.
1 Eine Anspielung auf »die drei hohen Berge«, die es nach Ansicht der Kommunistischen Partei Chinas in den fünfziger Jahren zu überwinden galt: Imperialismus, Feudalismus und Kapitalismus.
2 Etwa 3450 bis 4600 Euro (Stand Februar 2012).
Kapitel 1 – Kapitän und Passagier zugleich
Es sind mittlerweile fast zwei Jahrzehnte vergangen, seit ich 1993 bei CCTV (China Central Television) angefangen habe. In diesen Jahren ist aus dem 25-jährigen jungen Mann von damals ein reiferer Mann in seinen Vierzigern geworden. Es ist nicht verkehrt zu sagen, dass diese Jahre zu den wertvollsten Jahren meines Lebens gehören. Gleich, ob die Zeitspanne mir kurz oder lang vorkommt – diese Jahre nehmen innerhalb
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