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Sind wir nun gluecklich

Sind wir nun gluecklich

Titel: Sind wir nun gluecklich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bai Yansong
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gestorben und längst Schnee von gestern. Das Schweigen eines Telefons auf der einen Seite bedeutet zumeist ein fortlaufendes Klingeln des Telefons auf der anderen Seite, Diskussionen, Überzeugungskunst, Sorge, Hoffnung … Alle sind sie Medienleute wie ich, alle werden von den gleichen Impulsen und Befürchtungen getrieben. Ich vertraute auf die Zeit und auf Chen Ha, und ich verließ mich darauf, dass bei CCTV angesichts einer solchen Nachricht diese elementaren Impulse zum Zuge kommen würden.
    Als das Telefon nach einer Weile noch immer nicht läutete, schaltete ich den Computer ein. Im Internet ging es hoch her. Was einem wirklich das Herz brach: Beinahe sämtliche Kommentare im chinesischen Netz waren von Schadenfreude geprägt. In diesem Augenblick wusste man noch nicht genau, wie viele Menschenleben die Anschläge gekostet hatten, und auch nicht, wie viele Chinesen sich unter den Opfern befanden. Es war noch nicht allzu lange her, dass die USA versehentlich die chinesische Botschaft Ex-Jugoslawiens bombardiert hatten, und der Ärger darüber war noch nicht verflogen, sodass das unerwartete Geschehen am 11. September für viele ein Ventil für ihre schwelenden Hassgefühle gegen die USA öffnete. Aber dennoch war die völlige Gleichgültigkeit gegenüber den Menschenleben, die sich in diesen furchteinflößenden Hassgefühlen äußerte, einfach erschreckend. Angesichts dieser Kommentare überlegte ich: Wenn ich nun live hierüber berichtete, mit welchen Worten sollte ich das tun und auf welche Weise die Trauer um die Toten ausdrücken?
    Aber die Gelegenheit dazu wurde mir nicht gegeben. Das Schicksal wollte es, dass bei CCTV keine Berichte über die Ereignisse des 11. September über den Bildschirm liefen und der Sender aus diesem Grund eine lebenslange Bürde mit sich herumschleppt, die sich schwer schultern lässt.
    Als endlich das Telefon klingelte, berichteten sämtliche Medien bereits seit einer guten halben Stunde ununterbrochen. Der Anruf kam zu spät, und sein Inhalt war denkbar knapp: »Geh ins Bett, es hat keinen Sinn. Sie lassen uns nicht senden.«
    Ich konnte aus der Stimme meines Gesprächspartners seinen Frust und seinen Schmerz ebenso gut heraushören wie die Kämpfe und Diskussionen, die diesem Beschluss bei CCTV vorausgegangen sein mussten. Aber alles war endgültig unterbunden worden.
    Ein Nachrichtensender, auch wenn es sich um den staatlichen Sender CCTV handelt, hat einen natürlichen Bedarf an großen Nachrichten. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Sender aus freien Stücken auf eine Berichterstattung verzichtet, ist gleich null. Luo Ming, der später stellvertretender Chefredakteur für die Nachrichtenabteilung wurde, war damals gerade in den USA. Er bestätigte unmittelbar nach dem Eintreten der Ereignisse deren Richtigkeit und nahm Kontakt mit China auf – in der Hoffnung auf das Okay für eine mögliche Berichterstattung vor Ort.
    CCTV musste sich jedoch an die internen Weisungen halten. Für mich als kleinen Soldaten schien es eine triviale Angelegenheit, einfach in den Kampf zu ziehen. Vielleicht hegte da jemand die Befürchtung, wir könnten uns mit unseren Kommentaren über die Amerikaner lustig machen und es wäre besser, aus reiner »Großherzigkeit« erst gar nicht zu berichten. Doch diese vermeintliche Großherzigkeit war nichts als eine große Kleinmütigkeit, mit der man sich ein wahres Stück Geschichte durch die Lappen gehen ließ.
    Natürlich gibt es noch eine weitere grundlegende Erklärung dafür: Der zuständige Nachrichtenchef war nicht in China, konnte keine direkte Verbindung zu den entscheidenden Stellen aufnehmen und musste selbst entscheiden … doch ganz gleich, woran es lag, das Ergebnis bleibt dasselbe. Wir verpassten »9/11«.
    In jener Nacht tat ich kaum ein Auge zu, und ich bin sicher, dass ich nicht der Einzige bei CCTV war, der schlaflose Stunden verbrachte.
    Als ich 2009, acht Jahre später, die Reportage »Yansongs Blick auf die USA« machte, sah ich in Washington auf einer Ausstellungswand im Pressemuseum die Titelseiten der wichtigsten internationalen und nationalen Zeitungen vom 12. September 2001. Alle brachten, unabhängig vom Ursprungsland der Zeitung, beinah ausschließlich die gleiche Titelgeschichte, die Ereignisse des Vortags, »9/11«. Die einzige Ausnahme bildete eine große chinesische Zeitung, die mit anderen Titeln aufmachte. Der 11. September war dort nur eine winzige Randnotiz, verborgen inmitten anderer Beiträge.
    Diese Ausnahme stach

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