Sind wir nun gluecklich
lächerlich. Und dabei handelt es sich nicht um Ausnahmefälle, sondern um etwas ganz Alltägliches.
Da ist nichts zu machen. Menschen ohne Glauben in einer Gesellschaft ohne Glauben schlagen in ihrer Unerschrockenheit und Zügellosigkeit sämtliche von ihren Vorfahren überlieferten Maximen in den Wind und machen in ihrem eigennützigen Profitinteresse anderen das Leben zur Hölle.
Manch einer sagt, wir müssten darauf achten, unsere Grundsätze zu wahren. Doch schon bald gibt es keine Grundsätze mehr, oder – besser gesagt – die Grundsätze werden immer wieder nach Lust und Laune aufgegeben, warum also noch von Grundsätzen sprechen? Wo sind die Leitprinzipien, die sich bewahren lassen?
Eines Nachmittags fuhr ich, hinter mir ein weiterer Wagen, ganz normal die Straße entlang, als uns plötzlich eine Luxuskarosse gegen die Fahrtrichtung entgegenkam und uns mit lautem Hupen zur Freigabe des Wegs nötigen wollte. Es gab aber keinen Weg, auf den wir hätten ausweichen können. Deshalb fühlte sich die Fahrerin des Wagens, als sie sich an uns vorbeidrängte, bemüßigt, die Fensterscheibe herunterzulassen und uns lautstark zu beschimpfen. Ich war bestürzt über dieses gegen die Fahrtrichtung fahrende Auto und seine völlig aufgebrachte Besitzerin. Es handelte sich um eine junge Frau mit hübschem Gesicht, augenscheinlich war sie wohlhabend und stammte aus einer angesehenen Familie. In diesem Augenblick jedoch entstellte die Wut ihre lieblichen Gesichtszüge.
Ich selbst verspürte erstaunlicherweise, während ich so ausgeschimpft wurde, jedoch nicht den geringsten Zorn. Stattdessen fühlte ich eine unglaubliche Trostlosigkeit. Frust, weil sie und ich in der gleichen Zeit und der gleichen Welt leben und weil jeder von uns sich manchmal so verhält wie sie: Wir haben alle keinen Ort, an den wir ausweichen können. Ob man es nun mit schlichter Sittenlosigkeit zu tun hat oder mit extremer Güte, das spielt dabei oft gar keine Rolle. Wir leben in einer sehr komplexen Zeit.
Ein Arzt nimmt Umschläge mit Geldgeschenken an, aber er erledigt auch eine Operation nach der anderen, bis er todmüde auf dem Operationstisch zusammenbricht. Ein Lehrer verhängt Gruppenstrafen über seine Schüler und hält an strikten Examensmethoden fest, während er jahrelang seine Familie und seine eigenen Kinder vernachlässigt, weil er nur seine Arbeit im Sinn hat. Ein Politiker ist möglicherweise im Sumpf der Korruption verstrickt, während er gleichzeitig kein einziges Wochenende frei hat und sein Amt de facto gar nicht so schlecht erfüllt. Wen wundert es da, wenn die Leute sagen: »Ist mir egal, ob einer korrupt ist, Hauptsache, er kümmert sich um seine Aufgaben!«?
Und, Hand aufs Herz, wenn wir ehrlich sind – wer von uns ficht nicht fortwährend einen Kampf mit sich selbst aus? Wie lassen sich Richtig und Falsch unterscheiden? Wie lässt sich sagen, was gut und was böse ist? Wo ist das rettende Ufer?
Es heißt, unter den 1,3 Milliarden Chinesen bekennen sich mehr als hundert Millionen zu einer bestimmten Religion wie dem Buddhismus, dem Katholizismus und anderen christlichen Kirchen oder dem Islam. Weitere hundert Millionen geben an, sie glauben an den Kommunismus. Danach kommt nichts mehr. Das heißt, fast 1,1 Milliarden Chinesen glauben an gar nichts. Ist das ein Grund zur Sorge?
Nun haben sich auch in den vergangenen Jahrhunderten die Chinesen nie einheitlich zu einer bestimmten Religion bekannt. Die meisten von uns pflegen in der Regel erst im letzten Moment nach der helfenden Hand Buddhas zu greifen. Wer Hilfe braucht, zündet Räucherkerzen an und begibt sich mit Geldgeschenken ausgestattet in den Tempel, um sich dort vor den Heiligen auf die Knie zu werfen. Wenn es funktioniert, erfüllt man das im Austausch gegebene Versprechen, und damit hat es sich.
Andererseits hat es den Chinesen nie an Glauben gefehlt. Ganz gleich, ob man kulturelle Bildung hat oder nicht, hinter dem komplexen Gebilde der chinesischen Kultur lag doch immer auch unser Glaube verborgen: in den Geschichten, die uns unsere Großeltern erzählten, in den Gedichten der Tang- und Song-Zeit und auch in der überlieferten Etikette und den Ritualen unseres Lebens. Entsprechend haben die Chinesen seit jeher die Natur geachtet und nach einer Einheit von Mensch und Natur gestrebt, Respekt vor Erziehung und Bildung gepflegt und sich darauf verstanden, stets das rechte Maß zu halten. Wenn man also in China über Glauben redet, hat das zwar manchmal, aber
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