Sine Culpa
platzte Stanley mit einer Bitte heraus.
»Major, ich möchte, dass Sie meine Tochter besuchen.« Er starrte nach unten auf seine geäderten Hände und spielte mit der Infusionsnadel, sodass der Major den Blick abwandte. »Wir haben seit über zwanzig Jahre nicht mehr miteinander gesprochen. Ich weiß, dass sie noch lebt, das hat mir der Vikar erzählt.«
»Heutzutage entfremdet man sich leicht voneinander …«
»Das war keine Entfremdung. Es war eine Entzweiung. Wir haben uns gestritten, und hinterher waren wir beide zu stolz, um einzulenken.« Es war, als wollte er ihm begreiflich machen, wie brutal ihr Zerwürfnis gewesen war. »Aber in den letzten Wochen habe ich mich gefragt, wieso mir diese zusätzliche Zeit gewährt worden ist.«
»Und zu welcher Antwort sind Sie gelangt?«
»Ich glaube, mir wird eine letzte Chance gegeben, mein Leben zu ordnen.« Der Blick, den er dem Major zuwarf, war schon fast drohend, und Maidment sah weg.
»Bitten Sie doch den Vikar, mit ihr zu sprechen. Der wäre weit besser geeignet.«
»Nein. Mit Religion hat sie nichts am Hut, obwohl sie mal gläubig war, bis sie ihren Glauben verlor. Sie wären ideal. Sie können mit Frauen umgehen. Nun gucken Sie nicht so, wir wissen doch beide, dass das stimmt.« Wieder dieser Blick. »Sie wohnt nicht weit von hier.«
»Aber warum gerade ich?«
»Sie mag Menschen, die Autorität verströmen, und das tun Sie, und Sie können sich gut ausdrücken. Außerdem«, er legte eine bedeutungsschwere Pause ein, »sind Sie mir ja wohl was schuldig.«
Maidment musste nicht fragen, wieso. Er konnte Stanleys Bitte nicht guten Gewissens ablehnen.
»Erwarten Sie nicht zu viel, alter Junge.«
»Ich bitte Sie nur, es zu versuchen. Bringen Sie sie nur dazu, das hier zu lesen.«
Er hielt ihm einen verschlossenen Umschlag hin. Maidment bemerkte, wie stark Stanleys Hand zitterte.
»Also gut, ich versuch’s.« Er steckte den Umschlag ein, und Stan sank plötzlich erschöpft in seinen Sessel zurück.
»Sagen Sie, warum haben Sie sich zerstritten?«
»Darüber sprechen wir besser nicht. Wenn Sie es nicht wissen, werden Sie auch nicht Partei ergreifen. Sie ist nicht ohne, meine Sarah. Wenn sie denkt, dass Sie auf meiner Seite stehen, macht sie Sie zur Schnecke. Aber falls sie es Ihnen erzählen will, von mir aus.«
»Ihre Adresse?«
»Steht auf dem Umschlag. Danke, Jeremy.« Er blickte auf, und Maidment wurde verlegen, als er sah, dass ihm Tränen in den Augen standen.
»Ich rufe Sie an, wie es gelaufen ist.«
»Schön. Ich glaube, ich muss jetzt ein bisschen schlafen. Vielleicht ist es ja das tägliche Nickerchen, das mir so guttut, und natürlich der prima Whisky!«
Maidment sah sich den Umschlag erst am Abend genauer an. Er war kein Mensch, der schwierige Aufgaben lange vor sich herschob, und er beschloss, Stanleys Tochter Sarah gleich am folgenden Tag zu besuchen. Aber als er ihren vollständigen Namen und die Anschrift las, musste er sich setzen. Zuerst dachte er, Stanley habe sich einen üblen Scherz mit ihm erlaubt, doch dann verwarf er den Gedanken. Das war kein Witz, nein, sein schlimmster Albtraum hatte ihn eingeholt. Schweiß trat ihm auf die Stirn. »Mein Gott.«
Er bekam kaum Luft, als er die Adresse in Stanleys krakeliger Handschrift las:
Sarah Hill
26 , Penton Cross
Woodhampstead
Harlden , Sussex
Er kannte den Namen, die Anschrift. Er wusste sogar, wie ihr Gesicht aussah. Auf Fotos hatte sie vorzeitig gealtert ausgesehen, zerrüttet von Gefühlen, die keine Frau durchmachen sollte. Halb verdauter gebratener Schellfisch stieg ihm in die Kehle, und er spülte ihn mit einem Schluck Wein herunter. Wenn er doch seine Sünden genauso leicht wegspülen könnte. Nur Gott konnte eine solche Gerechtigkeit ersinnen.
Das Haus lag ein Stück von der Straße zurückversetzt, als wollte es sich verstecken. Ein alter, verdreckter Ford Fiesta stand in der Einfahrt. Der Vorgarten war von Unkraut überwuchert. Die Aura von bewusster Verwahrlosung und dem Wunsch nach Einsamkeit lastete auf dem Major, als er seinen blitzblanken Corsa abschloss und ein Gartentor öffnete, dass sich mit lautem Quietschen gegen den Eindringling wehrte.
Er hatte seinen Besuch extra auf den späten Vormittag gelegt, weil er hoffte, sie wäre dann vielleicht bei der Arbeit oder würde Freunde besuchen oder Einkäufe machen, sodass er den Brief guten Gewissens einfach unter der Tür hätte durchschieben können. Aber ein Blick auf das Haus verriet ihm, dass die Frau
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