Sine Culpa
er mit dem Gedanken gespielt hat, später zum Militär zu gehen. Meinen Sie, er wäre ein guter Soldat geworden?«
»Ganz bestimmt.« Maidment hatte das Gefühl, in dem kleinen Wohnzimmer zu ersticken, während Paul ihm genüsslich dabei zusah.
»Er wäre in allem gut gewesen, mein Paul. Er hatte so viele Talente.«
Der Major nahm einen winzigen Schluck von dem lauwarmen Wasser, damit er sprechen konnte.
»Ich muss Ihnen diesen Brief geben«, wiederholte er diesmal eindringlich, aber sie weigerte sich, ihn entgegenzunehmen. »Dann lege ich ihn hier auf den Couchtisch.«
»Hat er es Ihnen erzählt?«
»Ich verstehe nicht.«
»Warum wir uns zerstritten haben?«
»Nein. Er meinte, dass müsste ich nicht wissen.«
Sie stieß ein bellendes Lachen aus, ein so freudloser Klang, dass ihm die Augen brannten.
»Das sieht ihm ähnlich. Aber Sie sollten es wissen.«
Er zuckte hilflos mit den Schultern, fühlte sich von ihrem starren Blick wie festgenagelt.
»Es war lange nach Pauls Verschwinden.«
Sie hielt inne und trank einen Schluck Kaffee, ohne ihn zu genießen, aber auch ohne das Gesicht zu verziehen, gleichgültig, wie alles an ihr. Er wartete.
»Die Polizei hatte die Suche nach ihm eingestellt, natürlich ohne uns darüber zu informieren. Damals gab es noch keine Beamten, die sich speziell um die Angehörigen kümmerten, nicht wie heute.«
Sie stand mit einer ruckartigen Bewegung auf, wie ein programmierter Roboter, und ging zu einem Regal, um einen schweren Aktenordner herauszuholen.
»Das ist ein jüngerer Fall.« Sie reichte ihm die Akte. »Wieder ein Junge. Sehen Sie sich die Zeitungsausschnitte an und was sonst für ein Wirbel gemacht wird. Faszinierend, was die Polizei heutzutage alles unternimmt. Wir hatten nichts dergleichen.«
Sarah Hill bückte sich und öffnete eine zweite Tür. Die Akte, die sie ihm diesmal gab, war sehr viel dünner, kaum zwei Zentimeter dick.
»Das ist Pauls Akte. Lächerlich schmal, nicht? Und die Hälfte davon sind nur Verweise von anderen Ermittlungen auf seinen Fall. Die Kriminalwissenschaft hat erstaunliche Fortschritte gemacht, zumindest was das Vokabular angeht. Aber das rettet die Kinder nicht.«
Bei ihren Worten zuckte er zusammen und blickte auf, erwartete, Tränen in ihren Augen zu sehen, doch sie waren trocken.
»Verfolgen Sie viele Fälle?«
»Jeden. Der Dachboden ist voll mit alten Akten. Hier unten hab ich nur die aus diesem Jahr. An Silvester trage ich die Akten des vergangenen Jahres nach oben und stelle neue Ordner in den Schrank.«
»Neue?«
»Natürlich, leere, die nur gefüllt werden müssen. Am 1. Januar jedes Jahres denke ich an all die Mütter, die das neue Jahr so freudig begrüßen, als könnten Tragödien nur andere Menschen treffen und nicht sie. Ich bereite die Ordner vor, klebe leere Etiketten auf. Dann trinke ich auf die Opfer des neuen Jahres und ihre Eltern. Ich weiß nicht, wer sie sein werden, und sie wissen das ebenso wenig, aber bis jetzt hat es noch kein Jahr gegeben, an dem ich am 31. Dezember einen leeren Ordner nach oben bringen konnte. Meistens muss ich noch welche nachkaufen. 1992 war ein böses Jahr. Da hatte ich schon im Juli hier unten keinen Platz mehr.«
Jetzt begriff er, dass sie noch immer vor Kummer wahnsinnig war.
»Ich schreibe ihnen allen. Zunächst hoffnungsvolle Briefe, weil ich für die wirklich dankbar war. Dann die Gebete. Mir hat man damals ein paar sehr schöne zugeschickt. Sie bedeuten mir nichts, aber vielleicht helfen sie anderen. Und schließlich sende ich ihnen mein Beileid. Den Wortlaut habe ich im Laufe der Jahre ständig verbessert. Möchten Sie mal lesen?«
»Nein, danke, Mrs. Hill. Die Briefe sind bestimmt sehr schön.«
Er hatte Gänsehaut, und er wollte nur noch weg. Er stand auf.
»Warten Sie! Ich hab Ihnen noch nicht erzählt, was mein Vater mir und Paul angetan hat. Er kam eines Tages her, Monate nach Pauls Verschwinden. Damals lebte mein Mann noch bei mir, noch …«
Ihre Gedanken glitten ab, lauschten einem Gespräch in der Erinnerung, und er wartete. Trauer und Erinnerungen waren ihm nur allzu bekannt.
»Mein Vater sagte, dass Paul bestimmt tot sei, dass ich die Hoffnung aufgeben müsste und anfangen sollte zu trauern. Dass das gut für mich wäre. Gut für mich!« Ihr Aufschrei ließ ihn zusammenfahren, und er hätte fast sein Glas fallen lassen.
»Er wollte Paul mit Worten töten. Ich musste ihn zum Schweigen bringen. Jeder Satz, den er aussprach, war für Paul der Tod. Ich konnte
Weitere Kostenlose Bücher