Sine Culpa
Alter nicht aus dem Kopf. Er war bestimmt arglos und zutraulich gewesen, nicht ahnend, wie schön er war, und nur auf die Dinge konzentriert, für die kleine Jungs sich nun mal interessieren: Kriegsspiele, den Mädchen in der Klasse mit ekeligen Insekten Angst machen und vor deren angedrohten Racheküssen weglaufen. Und dann hatte ihn dieser widerliche Taylor gefunden. Wie lange das Schwein wohl gebraucht hatte, um sich an Paul ranzumachen, konnte man nur vermuten, aber schließlich hatte er ihn dazu gebracht, den schlimmsten Missbrauch hinzunehmen, der einem Kind widerfahren kann. Fenwick war beinahe froh, dass die pornographischen Filme und Fotos nicht mehr auffindbar waren, weil ihm regelrecht schlecht wurde bei dem Gedanken daran.
Mein Gott, wie hatten seine Eltern die Nachricht aufgenommen? Was, wenn irgendeiner Chris so etwas antäte? Fenwick drehte sich der Magen um, und er musste in eine Parkbucht fahren. Er brauchte frische Luft und stieg aus dem Wagen. Weite Felder erstreckten sich ringsherum, in der Ferne hörte er Schafe. In der Hecke neben ihm flatterten ein paar kleine Vögel, dann war alles ruhig. Die Erde war noch immer aufgeweicht von den schweren Regenfällen, deshalb musste er sich auf der Teerstraße halten, während er gedankenversunken auf und ab ging.
Er empfand tiefes Mitleid mit Sarah und Gordon Hill und mit den Eltern von Malcolm Eagleton. Auch nach so langer Zeit musste ihre Trauer unermesslich sein. Vielleicht dachten sie nicht Tag für Tag an ihre Söhne, aber wie oft überlegten sie wohl: »Mein Junge wäre jetzt so und so alt … vielleicht schon Vater … und meine Enkelkinder würden genauso aussehen wie er.« Beide Ehepaare hatten sich nach dem Verschwinden ihrer Söhne getrennt, auseinandergetrieben durch Trauer und die nie endende Unsicherheit. Sie hatten Besseres verdient. Wut durchsetzt mit Angst um Chris durchfuhr ihn wie ein physischer Schmerz.
Fenwick stieg wieder ins Auto und schaltete sein Handy ein. Ohne nachzudenken, ließ er sich von der Auskunft eine Nummer geben und wählte sie. Eine fröhliche Frauenstimme meldete sich.
»Miss Sanders?«
»Ja, wer spricht denn da?«
»Andrew Fenwick, Chris’ Vater.«
»Mr. Fenwick. Oh«, er hörte, wie sie rasch Luft holte, »ist was mit Chris? Ihm ist doch hoffentlich nichts passiert?«
»Nein, nein, ihm geht’s gut.« Er suchte verlegen nach Worten. »Ich … es tut mir leid, dass ich Sie in den Ferien störe.«
»Mr. Fenwick, Sie stören nicht. Zufällig sitze ich gerade am Schreibtisch und bereite eine Unterrichtsreihe für das kommende Schuljahr vor, also machen Sie sich keine Gedanken.«
»Danke. Es geht um etwas, was Sie mir gesagt haben … Ich weiß nicht, ob Sie sich noch erinnern …«
»Auf dem Elternabend, meinen Sie?«
»Ja, wegen Chris.«
»Sie sind mir doch hoffentlich nicht mehr böse. Das war vor sechs Monaten.«
»Aber nein. Ich habe viel darüber nachgedacht und … na ja … puh, das fällt mir jetzt ziemlich schwer.«
»Über Ihre Familie zu reden?«
»Um Hilfe zu bitten.«
Nach einer kurzen Pause sagte sie: »Das ist doch verständlich, schließlich hängt alles an Ihnen, und Sie haben eine sehr schwierige Zeit hinter sich. Kein Wunder, dass Sie da keine Einmischung wünschen.«
»Aber ich möchte Chris helfen, und ich habe keine Ahnung, wo ich anfangen soll.«
»Ich bin auch keine Expertin, aber wir können uns gerne mal treffen, und ich mache Ihnen ein paar Vorschläge.«
»Würden Sie das tun?«
»Gern. Möchten Sie gleich jetzt vorbeikommen?«
Das plötzliche Angebot erwischte ihn auf dem falschen Fuß.
»Ah, nein, ich muss zurück ins Präsidium, aber wie wär’s später in der Woche, falls es Ihnen nichts ausmacht?«
»Sie wissen ja, wo Sie mich finden. Rufen Sie doch einfach an, wenn Sie Ihren Terminkalender vor sich haben.«
»Danke, das ist wirklich sehr nett von Ihnen.«
Er fuhr in milderer Stimmung weiter nach Harlden und schämte sich ein wenig für seine Gereiztheit früher am Tag.
Kettering erwartete ihn mit zwei Tassen Tee und Kuchen in seinem Büro. Er war Fenwicks Launen gewohnt und hatte dessen Bemerkungen am Telefon schon vergessen.
»Ich dachte, Sie möchten vielleicht einen Bissen zu sich nehmen. Ich hab jedenfalls nach Gerichtsterminen immer einen Bärenhunger.«
Fenwick musterte Ketterings sportliche Figur, ohne ein Gramm Fett am Körper, und beschloss, dass er einen guten Stoffwechsel haben musste.
»Danke. Entschuldigen Sie wegen vorhin.
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