Sinfonie des Todes
einnahm. Hatte er eine Chance? Würde sie ihn irgendwann als Mann akzeptieren, vielleicht einmal begehren? Oder sogar lieben? Gustav erschauderte, ihn schwindelte. Bestand die Möglichkeit?
Endlich stand er vor der Tür des hohen Gebäudes, in dem er einen großen Teil seiner Lebenszeit verbracht hatte und das für viel zu viele Personen eine Bleibe darstellte. Wäsche hing im Hof, eine Bluse war vom Wind um die Leine gewickelt worden. Ein kleines Kleidungsstück, das Gustav nicht recht erkennen konnte, hatte sich gelöst und lag im Schmutz. Er widerstand dem Drang, es aufzuheben, und betrat das Treppenhaus. Der Geruch nach frisch gekochtem Eintopf stieg ihm in die Nase und erinnerte ihn daran, dass er schon geraume Zeit nichts gegessen hatte. Frau Svotovska aus dem ersten Stock fegte gerade die Stiege, was ein ziemlich sinnloses Unterfangen war, da die vielen Menschen mit ihren schmutzigen Schuhen diese immer wieder von Neuem verdreckten.
Die Hausmeisterin drehte sich um, als sie bemerkte, dass jemand in den Flur getreten war. »Guten Tag, Herr Wissel«, grüßte sie höflich und drückte sich in eine Ecke, um ihren Nachbarn durchzulassen. Gustav drängte sich an ihr vorbei und nickte kurz. Aus der Wohnung, die seiner gegenüberlag und mit deren Bewohnern er seit mehreren Monaten den Abort teilen musste, drangen die üblichen Streitgeräusche. Geschirr fiel klirrend zu Boden, eine Frau schrie, eine Faust krachte auf ein Möbelstück. Gustav schüttelte den Kopf und öffnete seine Tür. Abgestandene Luft schlug ihm entgegen. Sofort zog er die Vorhänge in seinem ehemaligen Wohnzimmer zurück, in das sich aus Platz- und Wohnungsmangel seit einigen Wochen eine vierköpfige jüdische Familie aus Galizien einquartiert hatte, und öffnete ein Fenster. Es befand sich glücklicherweise zurzeit niemand im Raum, und so blieb er eine Weile im Zug der frischen Luft stehen und sah hinaus. »Lina, wann wirst du mein sein? Wann darf ich dich in meinen Armen halten?«, flüsterte er den Kindern entgegen, die unten auf der Straße spielten und sich nicht um den Mann aus dem zweiten Stock kümmerten, der sie mit verträumtem Blick beobachtete.
Eine krächzende, ihm wohlbekannte Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. »Gustav! Gustav? Bist du da?«
Er seufzte und rief zurück: »Ja, ich bin hier. Ich komme gleich.« Wissel wandte sich vom Fenster ab und begab sich ins Schlafzimmer, das er mit seiner Mutter teilte. Obwohl bereits später Nachmittag war, hatte sie ihr Nachtgewand noch immer nicht ausgezogen und lag halb zugedeckt im Bett. Martha lächelte, als sie ihren Sohn im Türrahmen wahrnahm.
»Da bist du ja, mein Junge. Komm zu deiner lieben Mama und leiste ihr ein wenig Gesellschaft.« Sie streckte die Arme aus und sah Gustav bittend an. Zögernd trat er zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. »Komm näher, Junge.« Sie zog ihn auf das Laken hinunter. Gustav gehorchte widerwillig und kuschelte sich an sie, die Tür im Blickfeld. Er fühlte ihre massige Gestalt im Rücken, spürte ihren Atem im Nacken. Seine Haare stellten sich dabei auf und sein Hals schnürte sich zusammen. Langsam und sanft strich Martha über Gustavs Haare, streichelte seine Wange und küsste seinen Hinterkopf. Ihre Fingerspitzen fühlten sich an wie tausend kleine Nadeln, die sich ihm ins Fleisch bohrten. Um seine Brust legte sich ein solch starker, enger Ring, dass er hastig aufstehen musste, um nicht zu ersticken, um nicht von ihrer einnehmenden Liebe erdrückt zu werden.
Er murmelte eine Entschuldigung und flüchtete aus dem Schlafzimmer und aus der Wohnung, deren Enge ihm fast den Verstand raubte. Seit sein Vater gestorben war, hatte Martha nur noch Gustav, den sie inniglich liebte. Sie umklammerte ihn mit ihrer Zuneigung, kontrollierte ihn vehement und würde ihn niemals gehen lassen. Er wusste, dass für sie keine andere Frau in sein Leben treten durfte. Sie sollte die einzige weibliche Person in seiner Umgebung sein, der es erlaubt war, ihm näherzukommen und seine Liebe zu erhalten. Und dafür sorgte sie mit sanfter, jedoch unerbittlicher Härte.
Wissel rannte die Treppe hinunter, stolperte fast über den Eimer von Frau Svotovska und erreichte schließlich das Freie, wo er keuchend stehen blieb. Er wusste, was er tun musste. Er tat es jedes Mal in dieser Situation. Es verhalf ihm zu einer kurzfristigen Beruhigung, zur Fähigkeit, sein Leben weiterzuführen und sich nicht von der nächstbesten Brücke zu stürzen. Mit schnellen Schritten lief
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