Sinfonie des Todes
erwähnten nur das Nötigste, verschwiegen das verbotene Kartenspiel und waren schnell mit ihrer Schilderung des Abends zu Ende.
»Und es ist nichts Außergewöhnliches geschehen? Kein Streit, keine heftige Diskussion?« Der Wirt schüttelte den Kopf. »Nein, der Abend verlief ruhig, ohne Zwischenfälle. Aber können Sie uns nicht endlich sagen, warum Sie das alles wissen wollen?«
Warnstedt nickte nachdenklich und meinte: »Wilhelm Fichtner wurde letzte Nacht ermordet.«
Es entging Cyprian nicht, wie Gustav Wissel erbleichte und sich krampfhaft am Tresen festhalten musste, um nicht umzukippen. Der Wirt zuckte lediglich mit den Achseln. »Tot, sagen Sie? Ermordet?«
Warnstedt nickte. »Ja. Er wurde in seinem Schlafzimmer erschossen.«
Schlözer fluchte leise und begann, mit hektischen Bewegungen eine Tasse abzutrocknen.
Der Inspektor schaute ihn interessiert an. Der Wirt stellte das Geschirrstück heftig aufs Schankbrett und meinte mit gepresster Stimme: »Der Bastard ist tot. Gut. Da kann man nichts machen.«
Cyprian entschied, die ungewöhnlichen Reaktionen der beiden fürs Erste auf sich beruhen zu lassen, und glitt vom Hocker. »Das wäre alles. Vielen Dank, die Herren.« Er verabschiedete sich und schlängelte sich durch die Tische und Stühle zum Ausgang zurück. Inzwischen befanden sich mehr Personen im Lokal als zuvor. Die meisten tranken allein eine Karaffe Wein oder ein Glas Bier, nur wenige sprachen miteinander oder widmeten sich einem Würfelspiel. Warnstedt sah, dass sich Antonia, die sich um den Ausschank gekümmert hatte, in der Zwischenzeit an einen Tisch gesetzt hatte und mit einem älteren Mann kokettierte, der in diesem Moment das Gesicht an ihren Hals presste. Er hatte den Arm um ihre Schultern gelegt und spielte mit einem ihrer Zöpfe. Gerade als der Inspektor die Tür öffnete und kühle, frische Luft in das Wirtshaus strömte, lachte die Tochter des Wirts hell auf und küsste den Fremden, dessen Hand sich schon in ihr Kleid verirrt hatte, auf den Mund. Cyprian erschauderte, wandte sich von dem Bild ab, das ihm Unbehagen bereitete, und trat ins Freie.
Es war inzwischen Nachmittag geworden. Die Stunden waren verflogen, ohne dass es Warnstedt besonders aufgefallen war. Ihm stand plötzlich nicht mehr der Sinn nach profaner Detektivarbeit. Außerdem forderten die unzähligen Nachtschichten der letzten Tage ihren Tribut. Sollten doch Werlhoff und Kronenfeldt ihre Arbeit machen; er selbst wollte jetzt nach Hause gehen und endlich schlafen. Die nächsten Tage würden sich ohne Zweifel auch so anstrengend genug gestalten.
Cyprian von Warnstedt bestieg die nächstbeste Tramway, die in seine gewünschte Richtung fuhr, und machte sich auf den Heimweg. Was wohl Katharina gerade machte? Gab sie Unterricht? Dachte sie überhaupt noch an ihn? Oder tröstete sie sich mit Akkorden und Polyrhythmik über ihre aufreibende Liebschaft hinweg? Der Inspektor lachte spöttisch auf. Er stieg aus, als er sein Ziel erreicht hatte, und tat gedankenvoll die letzten paar Schritte.
Während er sich auszog und das Bett herrichtete, hatte er eine Schellackplatte von Caruso aufgelegt, die seine Stimme in seiner Glanzrolle als Floris für die Ewigkeit konservierte. Die Platte war ein Geburtstagsgeschenk von Katharina gewesen, doch als die Oper zu Ende war, hatte sich Cyprians Stimmung noch mehr verfinstert. Er schaltete das Grammofon aus, kroch unter die Bettdecke und griff nach LeFanus ›Carmilla‹, die seit einigen Tagen auf seinem Nachtkästchen lag. Lustlos blätterte er durch die Seiten, und ehe er sich versah, war er eingeschlafen.
9. Kapitel
Gustav irrte durch die engen Spittelberger Gassen, an den zahlreichen Beisln vorbei, in denen sich die von ihm so ungeliebten Ungarn, Kroaten und Tschechen lautstark unterhielten, ohne bewusst wahrzunehmen, wo er sich befand und wohin er sich begab. Die Eingewanderten machten ihm Angst, denn er verstand ihr Wesen nicht. Ihre Lautstärke bereitete ihm Kopfschmerzen. Der Platz, den sie einnahmen, erzeugte ihm ein beklemmendes Gefühl in der Brust. Doch in diesem Moment hatte er keine Gedanken für diese Leute. Nur etwas hatte sich in seinem Kopf eingebrannt: Wilhelm Fichtner lebte nicht mehr, war tot. Endgültig. Und Lina? Sie hatte nun keinen Ehemann mehr. Sie war frei. Lina … Sein Herz krampfte sich zusammen, als er an die Frau dachte, die ihn schon seit Jahren nicht mehr losließ, die ihn in seinen Träumen verfolgte und jede Faser seines Körpers mit ihrer Existenz
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