Sinfonie des Todes
unbeirrt seine Frage: »Wann hat Wilhelm Fichtner das Lokal verlassen?«
Der Wirt rollte mit den Augen, sah in die Höhe und verwarf die Arme. »Wann – ja, wann? Keine Ahnung. Muss so gegen zwölf gewesen sein. Oder auch etwas später. Ich schaue nicht jede Sekunde auf die Uhr.«
Der Inspektor kramte nach seinem Notizblock und notierte die Aussage des Mannes.
Die trüben Fensterscheiben erschwerten den Blick in die Kaisermühle. Trotzdem konnte der Mann draußen auf der Straße den Wirt ausmachen, der hinter der Bar stand und mit einem Fremden sprach, welcher gerade etwas in ein Büchlein schrieb. Was wollte dieser Mann von Schlözer? Er kniff seine Augen ein wenig zusammen, um besser sehen zu können. Unweigerlich erinnerte er sich an den Spielabend und natürlich an Wilhelm. Wie jedes Mal, wenn er an diesen Mann dachte, an diese Kreatur, wie er ihn nannte, zog sich sein Herz zusammen und Hass durchströmte seinen Körper, erfüllte seine Seele, seinen Geist.
Er begann leicht zu zittern, seine Hände ballten sich zu Fäusten. Angestrengt spähte er in den nur spärlich beleuchteten Raum. Er musste sich zusammenreißen, das wusste er, wenn er nicht auffallen wollte. Tief atmete er ein und aus und entspannte sich wieder. Die Nägel, die er krampfhaft in die Handfläche gebohrt hatte, hinterließen rote Abdrücke, deren Schmerz er aber nicht wahrnahm.
Mit einer ruckartigen Bewegung öffnete Wissel die Eingangstür und betrat das Lokal.
Warnstedt drehte sich um, als er die Glocken bimmeln hörte, die über dem Türrahmen hingen und jeden neuen Gast ankündigten. Er sah eine kleine, nervös wirkende Gestalt am Eingang stehen bleiben und schüchtern winken. Der Wirt rief dem Neuankömmling zu: »Ah, Gustav, komm zu uns! Der Herr hier möchte etwas über Wilhelm wissen. Da kannst du auch helfen.«
Nur zögernd kam der Mann näher. Dem Inspektor schien es, als wäre dieser bei der Erwähnung des Toten zusammengezuckt. Er trat auf ihn zu. »Ich bin Gendarmerie-Inspektor von Warnstedt. Und wie heißen Sie?«
Die Hand, die Cyprian ergriff, war feucht und kalt. Leise stammelte der Gast: »Gustav. Gustav heiße ich. Wissel. Gustav Wissel. Ja, so heiße ich.«
Er verlangte ein Bier und nahm gierig einen Schluck, als ihm Schlözer das Glas überreicht hatte. Warnstedt setzte sich auf einen der Hocker. »Sie waren also gestern auch hier?« Gustav, der den Blick nicht von der Holzplatte der Theke abwandte, nickte. Die rußgeschwärzten Lampen malten zuckende Muster auf seine Wangen.
»Und Sie haben Wilhelm ebenfalls gesehen? Saßen Sie zusammen?«
»Ja. Leyser war auch dabei«, murmelte Wissel.
»Ist Fichtner allein gegangen? Oder hat ihn jemand begleitet?«
Bevor Gustav oder der Wirt antworten konnten, öffnete sich die Küchentür. Ottos 17-jährige Tochter trat in den Schankraum. Sie hatte ihre Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten, was sie trotz ihrer weiblichen Rundungen kindlich wirken ließ.
»Antonia, was machst du hier? Bist du schon fertig mit dem Abwasch?«, fuhr der Wirt die junge Frau an. Das Mädchen antwortete nicht.
Antonia hatte Cyprian erblickt und trat lächelnd auf ihn zu. »Oh, wen haben wir denn da? So jung und so hübsch?« Sie sah ihn aufreizend an und schmiegte sich an seine Schulter. Als sie sanft ihre Hand auf einen von Warnstedts Oberschenkel legte, kam Otto mit erschrecktem Gesichtsausdruck auf Antonia zugeschossen, packte sie an ihrem geblümten Kleid, das die Sicht auf die Oberweite mehr zuließ als verhinderte, und verpasste ihr eine klatschende Ohrfeige.
»Das ist ein Beamter unseres Kaisers, du verfluchtes Weibsbild. Lass endlich die Finger von den Kerlen. Und mach dich gefälligst wieder an die Arbeit!« Er stieß seine schluchzende Tochter, die ihre rot verfärbte Wange hielt, in den Ausgaberaum hinter den Tresen.
Warnstedt hörte, wie Gustav neben ihm zu kichern begann, und er wandte sich ihm erstaunt zu. »Die Antonia«, gluckste Wissel, »ja, dieses Mädel hat was. Immer fesch und keck. Und gar nicht mal so übel in gewissen Dingen.« Der Wirt starrte ihn wütend an. »Halt den Mund, sag ich dir«, fauchte er und schlug mit der Faust auf die Theke.
Der Inspektor ging nicht weiter auf die unschöne Szene ein, sondern führte das Gespräch auf den vergangenen Abend zurück.
»War nun Fichtner allein, als er dieses Lokal verließ?«
Beide Befragten nickten. Warnstedt seufzte. »Erzählen Sie von Anfang an. Was ist gestern passiert?«
Wissel und Schlözer
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