Sinfonie des Todes
Mädchen an.
Wissel sah aus dem Augenwinkel, wie ein Gast aufstand und sich leicht schwankend der Dirne näherte. Als dieser den Tisch mit der Tänzerin erreicht hatte, beugte sich Maria zu ihm hinunter, sodass er an ihre Bluse gelangen konnte und mit leuchtenden Augen an den Klammern zu zerren begann. Maria lächelte, Gustav jedoch sprang auf, packte den Kerl am Arm und riss ihn herum. Mit aller Kraft, die er aufbringen konnte, schlug er in das bärtige Gesicht, das ihn verdutzt anschaute. Der Mann trat taumelnd ein paar Schritte zurück und spuckte Blut auf den Boden.
Wie durch einen Schleier sah Gustav dem Strauchelnden zu und glaubte plötzlich, die Stimme seiner Mutter zu vernehmen, die ihn rief, die ihn nach Hause lockte. Ihm lief es heiß und kalt den Rücken herunter. Sie lag allein zu Hause, langweilte sich, fühlte sich einsam, und er war nicht dort. Was tat er hier? Er musste heim, musste zu ihr. Langsam ließ er seinen Blick durch das Lokal schweifen und glaubte zu sehen, wie Maria grinste, wie Antonia grinste. Alle in diesem Raum schienen zu grinsen, ihn zu verhöhnen, zu verspotten. Gustav flüchtete und die Köpfe, die lachenden Köpfe, drehten sich um ihn, verfolgten ihn, setzten sich in seinem Nacken fest und verbissen sich gnadenlos in seinen Rücken.
10. Kapitel
Das Allgemeine Krankenhaus lag im Alsergrund, dem Bezirk zwischen Augarten und Zimmermannplatz. Auf einer weitläufigen Fläche breitete sich hier der Spitalkomplex aus und prägte das Bild. Als Cyprian von Warnstedt am nächsten Vormittag – ausgeruht und wieder voller Tatendrang – auf das Hauptgebäude zuschritt, kam er am Findelhaus und am berühmt-berüchtigten Narrenturm vorüber, wo man die geistig Verwirrten einsperrte. Die streng geometrische Rundform des festungsartigen Bauwerks löste in ihm Beklemmung aus. Drei- bis viermal hatte sich der Inspektor bereits in das Innere des Asyls vorgewagt, als ihn sein Beruf gezwungen hatte, auf richterlichen Beschluss einen Geisteskranken abzuliefern. Die Insassen waren nicht zu beneiden. Stets hatte er den Heimweg mit mulmigen Gefühlen angetreten, und Bilder von angeketteten und sabbernden Irren verfolgten ihn.
Schwer atmend betrat der Polizeibeamte das Gebäude und lenkte seine Schritte zum Gerichtsmedizinischen Institut. Seit rund 20 Jahren gab es nun schon diesen Seitenflügel. In weiser Umsicht hatte man der Pathologischen Bildungsanstalt einfach einen zweiten Stock aufgesetzt und mit einem Anbau einen neuen Hörsaal für die Medizinstudenten geschaffen. In der südlichen Hälfte war der Sektionsraum untergebracht. Cyprian erinnerte sich noch vage an die Zeitungsberichte über den verheerenden Brand des Ringtheaters, die er als
15-Jähriger mit einer Mischung aus Ekel und Faszination verfolgt hatte. Damals lagen die Ausgaben der Wiener Zeitung tagtäglich in seinem Elternhaus auf einer Kommode herum. Er verschlang Zeile für Zeile und stellte sich Brandwunden, gräulich weiße Blasen und abgestorbenes Gewebe vor. Mehr als 400 Opfer hatte es gegeben, und sie alle waren hier im Krankenhaus seziert worden.
Aktueller Inhaber der Lehrkanzel war der Anatom Alexander Kolisko. Doch da sich der Ordinarius eher der Pathologie des plötzlichen Todes zugewandt hatte, war gemeinhin sein Schüler Albin Haberda der erste Ansprechpartner, wenn es um kriminalistische Belange ging. An diesem Freitag, dem 22. November, wollte es der Zufall, dass Warnstedt ihm über den Weg lief, als er um eine Ecke bog. Beinahe stießen sie zusammen.
»Na, so was!«, lächelte Haberda. »So in Eile, werter Freund?«
»Sie habe ich gerade gesucht.«
»Der Brustschuss?«, erkundigte sich der junge Arzt, der etwa im gleichen Alter war wie der Polizist. »Das waren doch Sie, der ihn einliefern ließ, oder? In diesem Fall sind Sie zu früh dran. Ich hielt eben noch Vorlesung, den theoretischen Teil natürlich. Doch jetzt folgt der praktische. Möchten Sie sich mir anschließen?«, schlug er vor.
Warnstedt überlegte kurz. Dass er noch nicht gegessen hatte, mochte sich positiv auswirken. Er war zwar Einiges gewohnt, doch er suchte die Herausforderung nicht, wenn es sich umgehen ließ. »Wann ist die Totenschau?«
»In fünf Minuten«, antwortete der Mediziner. »Sie wird etwa bis Glock zwölf dauern. Gerade zeitig auf Mittag hin, sodass wir noch gemütlich Kutteln essen gehen können.«
Cyprian musterte ihn mit allen Anzeichen einer starken Aversion. Den Saumagen dieser Pathologen müsste man haben! Die ließen
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