Sinfonie des Todes
wieder aufgenommen. Eine Handvoll Passanten kam ihnen entgegen, und an einer Häuserzeile drang die lausige Musik einiger Bratelmusikanten aus den Fenstern. Schrader grunzte missmutig und kehrte auf dem Absatz um. Fichtner verstand ihn nur allzu gut. Sie gingen eine Zeit lang wortlos nebeneinander her, bis der Sektionsrat wieder die Stille durchbrach. »Haben Sie irgendeine Ahnung, wer an Wilhelms Ermordung Anteil haben könnte?«
»Ich habe Sie doch schon in Linas Gemütszustand eingeweiht, Herr Fichtner. Das ist aber auch schon alles, was ich weiß und was ich zu sagen habe. Genügt das denn nicht?« Er hatte mit Aplomb gesprochen und dehnte sogar die folgenden Worte: »Wilhelms Kreditoren sind übrigens Legion. In dieser Angelegenheit die Zusammenhänge zu erkennen, übersteigt meinen Horizont. Mal hat er diesem einen Bankozettel in die Hand gedrückt, mal jenem; und immer wieder hat er neue Darlehen aufgenommen. Studieren Sie den ›Pitaval‹, sage ich Ihnen, da finden sich auch solche üblen Geschichten. Wenn Sie nach einem Motiv suchen, sind Sie damit bestens bedient.«
Robert lachte auf, als er an die beliebte Sammlung historischer Strafrechtsfälle dachte, die besonders auf den Publikumsgeschmack abzielte. Wahrlich, die Causa Fichtner hätte in diesem Kompendium wohl einen Ehrenplatz verdient. Alles war noch so verworren, so ziellos. Ein säumiger Zahler mochte mitunter an seiner eigenen Ermordung selbst schuld sein, doch gab es in diesem Fall leider viel zu viele Gläubiger, auf die der Schatten einer Bluttat fallen konnte.
»Da vorn steht mein Automobil«, bemerkte sein Begleiter zu Robert. »Das Central ist also nicht mehr weit. Sie verzeihen doch, wenn ich ab jetzt meine eigenen Wege gehe? Oder kommen Sie nochmals mit rein?«
Der Sektionsrat winkte ab. »Für heute war ich genug abgestandener Luft ausgesetzt. Ein bisschen Ruhe wird mir nicht schaden. Aber eine Frage hätte ich noch …« Inzwischen hatten sie ein vierrädriges kutschenähnliches Gefährt erreicht, das jemand an die Seitenmauer eines Hauses geparkt hatte: ein Patent-Motorwagen der Marke Velo. Fichtner tätschelte liebevoll das hinter den Sitzen eingebaute Motorgehäuse. Er hatte bereits einige dieser metallenen Ungetüme auf den Straßen gesehen. Dieses Modell hier, das von Karl Friedrich Benz erschaffen worden war, erreichte gar eine Leistung von eineinhalb Pferdestärken! Eines Tages würden diese Fortbewegungsmaschinen das Leben der Menschen und das Bild der Landschaft nachhaltig verändern, davon war er überzeugt. »Sie und mein Bruder haben doch in etwa das gleiche Salär bezogen, oder nicht?«, griff Robert seinen Gedanken wieder auf. »Sie aber speisen im Central und leisten sich ein Auto. Stand es wirklich schon so schlimm um Wilhelm?«
»Was soll ich darauf antworten?«, erwiderte Schrader philosophisch. »Ich lebe allein, bin sparsam und habe keine Gattin zu verköstigen. Außerdem habe ich mir aus purer Eigenliebe diesen Luxus geleistet, weil ich im Kasino gewonnen habe. Ich spiele ebenso gern, wie Wilhelm gespielt hat, doch im Gegensatz zu ihm kenne ich meine Grenzen. Kommen Sie doch mit, schauen Sie mal vorbei. Nächsten Montag gibt es einen Empfang beim neuen Attaché der galizisch-lodomerischen Gesandtschaft, an der ich als Abgeordneter des Ministeriums teilnehmen soll. Da haben sie sicher wieder Spieltische aufgestellt, um den Leuten Unterhaltung zu bieten. Wahrscheinlich wird auch Frau Fichtner anwesend sein. Ich werde sie einladen, um sie ein wenig auf andere Gedanken zu bringen. Sie hat es verdient, das arme Ding.«
»Ich werde es mir überlegen«, antwortete Robert Fichtner, wobei er Schrader die Hand reichte. Dieser schüttelte sie und wünschte ihm einen angenehmen Tag. Fichtner wandte sich um und richtete seine Schritte heimwärts. Etwas war seltsam: Vor dem Allgemeinen Krankenhaus hatte er noch mit Warnstedt über Lina gesprochen. Hatte sie nicht zu Protokoll gegeben, in der Mordnacht allein spazieren gegangen zu sein? Wie man die Sache auch drehen und wenden mochte – so weit war es also schon mit der modernen Gesellschaft gekommen, dass sich die junge Frau bereits zu Heimlichkeiten hergeben musste, um nicht Mittelpunkt von Klatsch und Tratsch zu werden. Dabei war dieser Schrader doch das perfekte Alibi.
Nachdenklich ließ der Sektionsrat das Central hinter sich.
18. Kapitel
In Roberts Kopf schwirrten die Gedanken. Beim Nachhausekommen hatte er Wilhelms Sterbebildchen im Briefkasten vorgefunden, und
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