Sinfonie des Todes
er sich ihr noch erwehren? Wie lange konnte er dem Dämon in seiner Brust, der ihn langsam von innen auffraß, noch trotzen?
Robert Fichtner spürte intuitiv, dass ihm nicht mehr viel Zeit blieb. Trotzdem versuchte er stets, alles zu tun, um die Symptome zu lindern. Daher raffte er sich auch jetzt wieder auf, stieß sich vom Möbelstück ab und begab sich in die Küche, wo er dem kleinen, mit feinen Ornamenten verzierten Schränkchen neben der Spüle die Dose mit dem Zinnkraut-Tee entnahm. Der Ackerschachtelhalm, wie die unscheinbare, blütenlose Heilpflanze auch genannt wurde, sollte helfen, das Blut durch seine zusammenziehende Kraft zu stillen. Der Sektionsrat setzte einen Topf voll Wasser auf den Gasherd, gab eine bestimmte Menge des Krautes in das Teesieb und stellte dieses in die Tasse, die ihm vor ungezählten Tagen einmal eine seiner wenigen ehemaligen Geliebten geschenkt hatte.
Mit den Kräften am Ende fiel Robert auf einen Küchenstuhl. Er öffnete die obersten Knöpfe des Hemdes und versuchte, möglichst ruhig und gleichmäßig zu atmen. Unerklärlicherweise spukte ihm die damalige Freundin, an die er sich durch das liebevoll bemalte Gefäß erinnert hatte, die ihm aber ansonsten überhaupt nichts mehr bedeutete, im Kopf herum, ohne dass er sich bewusst auf sie konzentrierte. Er sah ihre fahlen gelbblonden Haare vor sich und blickte mit leichtem Erschaudern in die eisgrauen Augen der Frau, mit der er eine kurze Zeit seines Lebens verbracht hatte. Unwillkürlich verschwand ihr Gesicht und das von Lina tauchte in seinem Innern auf. Und mit ihm ungute Gefühle und viele unbeantwortete Fragen, die ihm auf der Seele brannten und ihn in den schlaflosen Nachtstunden quälten. Warum trauerte sie nicht um ihren Mann, seinen Bruder? Was hatte er selbst mit Wilhelms Tod zu tun? Gerade als das Schreckbild des Skorpions, das ihn seit Ausbruch der Krankheit immer wieder bedrängte und ihn mit scharfen Scheren und dem spitzen, giftigen Stachel peinigte, auf der Schulter seiner Schwägerin auftauchte, weckte ihn das Sprudeln des Teewassers aus den Gedanken und Hirngespinsten.
Er schob sich schwerfällig mitsamt dem Stuhl zum Herd, nahm den Topf herunter und füllte die Tasse mit Wasser. Einen Teil der Flüssigkeit schlürfte er mithilfe eines Löffels in sich hinein. Er wusste, dass er nicht alles auf einmal trinken sollte, sondern nur etwa alle zehn Minuten ein paar Schlucke.
Nach der Einnahme des Heiltrankes fühlte sich Robert schon um einiges kräftiger. Ächzend stand er auf, füllte ein Glas mit Wasser und nahm es mit ins Arbeitszimmer, um nachzuschauen, wie schlimm sich die Auswirkungen seines Hustenanfalls ausnahmen. Seufzend inspizierte er die blutbefleckten Stellen auf dem Schreibtisch und am Boden. Besonders Wilhelms Brief hatte gelitten und war stellenweise vom roten Auswurf durchtränkt. Wahrscheinlich konnte er nicht mehr vollständig entziffert werden.
Bevor sich der Sektionsrat um die Reinigungsarbeiten kümmern konnte, musste er noch etwas Schwieriges erledigen, was er, aus Angst, dem Unvermeidlichen ins Auge zu sehen, schon lange vor sich hergeschoben hatte. Er stellte das Glas vor sich auf den besudelten Brief und starrte hinein. In Bälde würde er hineinspucken, und er war sich bewusst, dass die schleimige Substanz auf der Oberfläche schwimmen bleiben sollte, damit nicht alle Hoffnung umsonst war und seine Lebensuhr noch eine Weile weitertickte. Würde jedoch das Ausgespuckte sinken, dann musste er sich ruhig auf das letzte Stündlein vorbereiten, wie Sebastian Kneipp lakonisch in seinem Werk über die Wasserkur vermerkt hatte.
Widerstrebend beugte sich Fichtner über das Glas.
Zäh löste sich der rötlich verfärbte Faden der Lungenabsonderung von der Lippe des Sektionsrats und platschte ins Wasser. Zitternd und mit bis zum Äußersten angespannten Nerven beobachtete er den Auswurf, der sich auf der Flüssigkeit ausbreitete.
Er blieb oben. Der Tod stand noch nicht vor der Tür.
Erleichtert wischte sich Robert über den Mund und machte sich ans Reinigen des Zimmers.
19. Kapitel
Am nächsten Tag, dem Totensonntag, war der Sektionsrat früh auf den Beinen und einer der Ersten, die sich in der Kirche einfanden.
Der Gottesdienst für den Verstorbenen war langatmig und nach Fichtners Dafürhalten ohne irgendwelche mystische Tiefe. Der Pfarrer verlor die unausweichlichen Worte über die Vergänglichkeit und den Weg allen Fleisches, ein Chor sang einige schöne Lieder, darunter ein Requiem mit
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