Sinfonie des Todes
vorschlug, einen Kurort, den er in Jugendjahren selbst schon aufgesucht hatte.
»Ich bin nicht wegen euch Literaten hergekommen«, meinte der Sektionsrat, den Hofmannsthals Anteilnahme rührte. Seit beinahe 200 Jahren gab es nun schon die Aufklärung, und noch immer nicht hatten sich La Mettrie, Voltaire, Diderot und die Jungs vom Jakobinerclub in den Köpfen der Menschen durchgesetzt. »Ich erwarte einen Arbeitskollegen meines Bruders«, erklärte Fichtner. »Man hat mir mitgeteilt, er sei hier anzutreffen.« Sein Auge schweifte durch den Raum. »Wenn man schon vom Teufel spricht«, meinte er daraufhin, als er einen Mann erblickte, der soeben eingetreten war und jener Person auf dem Zeitungsbild, das er in seiner Westentasche aufbewahrt hatte, zum Verwechseln ähnlich sah.
»Sie entschuldigen mich doch bitte?«, sagte Fichtner, als er sich erhob.
Hofmannsthal machte sogleich Platz, stieß dabei aber an Kraus, der mit fahrigen Gesten gerade zu einem Couplet ansetzen wollte. »Vorsicht, Vorsicht!«, rief Altenberg lallend aus, und Karl Kraus intonierte ungerührt:
»Der Kaiser und die Kaiserin
geben sich dem Beischlaf hin.
Doch zu ihrem arg’ Verdruss,
macht der Kaiser zeitig Schluss.«
»Bravo!«, erscholl es aus einigen Mündern. »Hört! Hört!«, meldeten sich andere zu Wort. Im Hintergrund fiel Altenberg vom Stuhl, und einige Zuhörer bemängelten lautstark den entsetzlich unpassenden Inhalt des Spottverses, zumal die hochverehrte Kaiserin schon längst unter der Erde lag. Stimmen wurden laut, einige Watschen wurden verteilt, und bald einmal bestellte man eine weitere Runde Kipferl mit Kaffee. Manch einer bedingte sich sogar ein Schnäpschen aus.
Der Sektionsrat wühlte sich indes durch das Gedränge.
Als er vor Stephan Schrader zu stehen kam und ihn am Rockärmel fasste, musterte ihn der Mann mit fragender Miene. Ein freundliches Flair ging von ihm aus, doch in dieser Gesellschaft – wie überall – gab er sich nicht die Blöße, frei und gefällig auf diesen Fremden einzugehen. »Was ist Ihr Begehr?«, erkundigte er sich. Er war hager, etwa 1,80 Meter groß, besaß schwarze lockige Haare und trug einen pedantisch getrimmten Schnurrbart.
»Hätten Sie kurz Zeit, Herr Schrader?«, wollte Fichtner wissen. »Mein Name ist Robert Fichtner.«
Schrader nickte verständig. Der eigentliche Zweck seines Kaffeehausbesuchs war ein ganz spezifischer gewesen: Um mit den Worten Ovids zu sprechen, so war er gekommen, um zu sehen, aber auch, um gesehen zu werden. Zudem wollte er etwas essen und natürlich wieder einmal eintauchen in die beispiellose Atmosphäre der örtlichen Cafés. Das wahre Bild des Wieners enthüllte sich niemals in seiner bloßen Existenz, wie man ihn etwa auf dem Markt, beim Ablauf der alltäglichen Geschäfte oder bei der Arbeit bewundern und beobachten konnte; vielmehr existierte er in seiner Widerspiegelung im menschlichen Auge. Gefühl und Seele des Betrachters verknüpften ihre Anschauungen, änderten sie ab und mischten sie zu einem neuen Porträt. Nur hier, im Café Central, war es möglich, Wien in seiner ganzen Tiefe zu verstehen. Doch jetzt stand der Bruder seines toten Arbeitskollegen vor ihm und brachte alle seine Pläne, die er für diesen Tag geschmiedet hatte, durcheinander.
»Wollen wir nach draußen gehen?«, schlug Schrader vor.
17. Kapitel
Die kühle Novemberluft umfing sie. Sie vertraten sich ein wenig die Beine und spazierten durch einige Gassen. Fichtner musterte den Mann unauffällig aus den Augenwinkeln und war zuversichtlich, ein offenes Gespräch führen zu können. »Sie haben also mit Wilhelm zusammengearbeitet«, stellte der Sektionsrat fest.
»Das habe ich doch schon alles der Polizei mitgeteilt«, bemerkte Stephan Schrader nüchtern. »Ich nehme zutiefst Anteil an der ganzen Angelegenheit, Herr Fichtner. Aber, mit Verlaub: Sie müssen doch verstehen, dass ich nicht immer wieder Red und Antwort stehen kann. Die Leute von der Presse waren sogar schon bei mir. Gleich gestern, nachdem dieser – wie hieß er denn nur? – dieser Werlhauff oder Werlhoff und sein Kollege bei mir waren.«
»Es ist ja nur für dieses eine Mal«, beschwichtigte Fichtner. »Verstehen Sie doch, er war mein Bruder …«
Der Mann seufzte auf. »Was möchten Sie denn wissen?«, fragte er einlenkend.
»Nun, in erster Linie will ich einfach ein wenig Einblick in das Arbeitsleben meines Bruders erhalten. Sehen Sie, wir standen uns nicht sehr nahe, und ich weiß sehr wenig
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