Sinfonie des Todes
Graduale und freudlosem Kyrie eleison, und ein Ministrantenpaar schwenkte hin und wieder Weihrauch und schwängerte die Kirchenhalle mit beißender Luft. Der ganze morbide Glanz, welcher die Stadt ansonsten so unverwechselbar kleidete, war nicht vorhanden.
Der Sektionsrat fühlte sich nicht mehr so matt wie am Vorabend, als er noch Blut gehustet hatte, doch wäre in diesem Moment der psychische Schmerz ohnehin der wesentlichere gewesen. Während er seinen Blick über die anwesende Trauergemeinde schweifen ließ, wurde ihm mit einem Mal schmerzlich bewusst, dass sein Bruder keine große Anzahl an Freunden besessen hatte.
Robert Fichtner erblickte einige ihm unbekannte Männer, die immer wieder verstohlen nach der Uhr schauten. Wohl Abgesandte von Wilhelms Arbeitsstelle. Irgendwo mussten auch die Mitglieder der letzten Spielrunde auszumachen sein; doch der Sektionsrat hatte sie ja nie zu Gesicht bekommen. Tatsächlich saß Gustav Wissel in derselben Reihe wie Otto Schlözer, und vorn bei der Ampore hatte sich Lina hingesetzt. Wie wächsern ihr Gesicht doch ist, durchfuhr es Robert. Er betrachtete sie, bemerkte die feinen Linien ihrer Kontur, die gefasst wirkenden Augen, die jegliche Regung zu unterwerfen schienen. Alles an ihr war krampfhaft unterdrückt, als ob die Wahrnehmung, die ihr Umfeld von ihr aufnahm, unter Kontrolle gehalten werden sollte.
Als Fichtner zuweilen den Blick nach links wandte, spürte er hinter sich die stechenden Augen Cyprian von Warnstedts. Es war sehr gut möglich, dass der Beamte wegen ihm, dem langjährigen Berufskollegen, gekommen war, doch ein untrügliches Gefühl ließ den Sektionsrat berufliches Interesse als Hauptgrund annehmen.
An einigen Verbundspfeilern der Kirche waren ziselierte Kerzenhalter angebracht, an den Mauerstücken dazwischen konnte man schwere, dunkle Ölgemälde erblicken, welche die Pest zum Thema hatten, den Großen Gleichmacher, der Wien schon so manches Mal auf verheerende Weise heimgesucht hatte. Fichtner erkannte Eiterbeulen und Schwären, grotesk verzerrte Gesichter, verfallende Körper, die von Ratten angenagt wurden. An der Zeremonie nahm er nicht sonderlich Anteil. Dass sein Bruder da vorn lag, in einem geschlossenen Sarg, berührte ihn weniger als die seltsame Empfindung, die ihn durchrieselte, sobald er an die eigene Krankheit dachte. Der gestrige Abend war einfach furchtbar gewesen.
Als sich die Messe ihrem Ende zuneigte, war Gendarmerie-Inspektor Warnstedt der Erste, der durch die Kirchentür ins Freie trat. Leise hatte er die Klinke nach unten gedrückt und sich mit würdevollen Schritten entfernt. Nun stand er auf dem Kirchhof und warf einen letzten Blick zurück auf die verwaschenen Mauern des Gebäudes. Scharen von Neugierigen hatten sich eingefunden, wohl angelockt durch die reißerischen Berichte in der Presse. Die Menge flüsterte unentwegt und reckte die Hälse.
Er bemitleidete die Trauerfamilie, wenn er daran dachte, wie mühselig sich der folgende Teil der Beerdigung nun gestalten würde. Beinahe vier Dutzend Friedhöfe gab es in Wien, wobei die aufgelassenen und in Park- und Grünanlagen umgewandelten nicht einmal mitgerechnet waren. Auf den fruchtbaren Anhöhen des Wienerwaldes lagen die meisten von ihnen, nachdem man sie aus dem Zentrum vertrieben hatte, um Platz zu machen für neue schmucke Häuser. Doch ausgerechnet den Zentralfriedhof musste sich die Fichtner ausgesucht haben; diese karge Nekropole im flachen Süden der Stadt.
Der Polizeibeamte blickte kurz um sich, bevor er auf die andere Seite der Straße wechselte und die Kirche und den gaffenden Menschenpulk hinter sich ließ. Er brummte, und ein hässlicher Gedanke setzte sich in seinem Hirn fest, nämlich dass Lina den unwirtlichen, wüsten Ort der Bestattung mit Bedacht gewählt hatte: Er war ein Sinnbild für die Ödnis ihrer Ehe.
Die Trauernden verließen die Kirche, und der Sektionsrat verweilte noch eine Weile, um das Treiben der Pompfüneberer, wie die Sargträger in der Wiener Mundart genannt wurden, zu beobachten. Vier Männer trugen den Sarg nach draußen. Eine pompös ausgestattete Kutsche war vorgefahren, die Ladeklappen mit schwarzen Wimpeln verziert, die hölzernen Radspeichen in Form menschlicher Gebeine geschnitzt. Es war ohne Zweifel ein Fluch des Bürgertums, dass man Reichtum und Ansehen der Trauerfamilie mit exzentrischem Grabschmuck und seltsamen Beerdigungsriten zur Schau stellen musste. Robert Fichtner schüttelte angeekelt den Kopf. Was Linas
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