Sinfonie des Todes
nun, als er in seiner stillen Wohnung stand und den schwarzen Anzug aus dem Schrank nahm, den er an der Beerdigung tragen wollte, hatte sich sein Gemütszustand noch immer nicht gebessert. Vorsichtig legte er das Kleidungsstück über eine Stuhllehne und strich da und dort eine Falte glatt. Seufzend setzte er sich aufs Bett. Sein Bruder fehlte ihm, auch wenn er ihn in letzter Zeit nur selten gesehen hatte, was er in diesem Moment bitter bereute. Gern hätte er noch mit ihm gesprochen, ihn bezüglich des Briefes befragt und ihm geholfen, wenn er dazu in der Lage gewesen wäre. Nun war es zu spät, und all diese Überlegungen nützten nichts mehr.
Der Sektionsrat ließ sich nach hinten aufs Kissen fallen und starrte an die Decke. Er fühlte sich plötzlich unglaublich müde und abgespannt. Als er seine Augen schloss, wurde ihm bewusst, wie sehr es ihn angestrengt haben musste, sie offen zu halten. Er wünschte sich, nichts mehr denken zu müssen, und versuchte, die quälenden Bilder zu unterdrücken, die in seinem Innern entstehen wollten, um ihn, wie so oft, zu malträtieren. Robert hatte sich angewöhnt, sich in solchen Situationen auf eine undurchdringliche Schwärze vor seinen Augen zu konzentrieren und sich an ihr festzuklammern.
Dieses Mal gelang es ihm, und er spürte, wie die Welt langsam von ihm wich und er in die Tiefen eines wohltuenden Schlafes versank.
Nach etwa drei Stunden erwachte er einigermaßen ausgeruht und erfrischt. Das Zimmer war in abendliche Dunkelheit gehüllt, in der Nachbarwohnung hörte er ein paar Kinder lachend spielen. Sich nach allen Seiten reckend, um die steifen, knackenden Glieder wieder in Bewegung zu bringen, stand Robert auf, tastete sich ins Arbeitszimmer und entzündete dort ein Licht, um noch einige Zeit am Schreibtisch unerlässliche Aufgaben zu erledigen. Als er die Schublade öffnete, um ein Formular herauszunehmen, sprang ihm Wilhelms Brief ins Auge, den er an ebendiesem Ort verstaut hatte. Er betrachtete die unregelmäßige Schrift seines Bruders, ohne die Worte zu lesen, die er sowieso schon beinahe auswendig aufsagen konnte, und fragte sich ein ums andere Mal, was wohl in dieser verhängnisvollen Nacht geschehen war.
Gedankenvoll stützte der Sektionsrat den Kopf ab und sah aus dem Fenster. Die dunklen Wolken hatten sich für kurze Zeit zurückgezogen und unzähligen matt schimmernden Sternen Platz gemacht. Noch lag kein Schnee auf den Ästen der Bäume, aber man konnte schon riechen, dass nicht mehr viel Zeit bis zum ersten Weiß vergehen würde.
Robert wurde es warm ums Herz, was er mit Erstaunen feststellte. Sachte legte er eine Hand an die Brust und horchte in sich hinein. Die Wärme verschwand nicht, sondern breitete sich aus, wanderte langsam nach oben, erreichte seinen Hals, seine Kehle, und er erkannte, dass sie von keiner Gefühlsregung herrührte. Ihn erfüllte Angst, da er nicht wusste, was mit ihm geschah, sein Magen krampfte sich zusammen, das Atmen fiel ihm mit einem Mal schwer. Und plötzlich begriff er, was die Hitze in seinem Innern zu bedeuten hatte, und er spürte im selben Moment auch schon den salzigen Geschmack im Mund. Wie jedes Mal fürchtete er sich vor dem, was unweigerlich geschehen musste, da er nie genau den Ausgang der Szene wissen konnte.
Seine Luftröhre verengte sich, ein nicht zu unterdrückender Hustenreiz begann ihn zu quälen, dem er schließlich widerwillig nachgab. Sofort füllte sich seine Mundhöhle mit Blut und Schleim. Konvulsivisch spuckte er das unappetitliche hellrote und schaumige Gemisch in die Handflächen, die er vor das Gesicht hielt. Die Menge, die er ausspie, war so groß, dass einiges davon auf den Schreibtisch und den Teppich spritzte.
Endlich, nach bangen und schweißtreibenden Sekunden, wurden die Krämpfe schwächer, und Robert ließ keuchend den Kopf hängen. Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich seiner, er fühlte sich zerschlagen und erschöpft. Nachdem er die Hände mit dem Taschentuch behelfsmäßig gesäubert hatte, erhob er sich apathisch und machte ein paar wenige unsichere Schritte in den Raum hinein. Ein leichter Anfall von Schwäche zwang ihn, stehen zu bleiben und sich für einen Moment auf der Kommode im Secessionsstil, die er sich vor einigen Monaten geleistet hatte, abzustützen. Tränen traten ihm in die Augen, aber er drängte sie zurück, schluckte die Angst und Verzweiflung hinunter. Er wollte sich nicht ergeben, sich nicht von der Krankheit bezwingen lassen. Wie lange konnte
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