Sinfonie des Todes
lächelte.
»Jede Schrift ist im Prinzip ein erlerntes Verhaltensmuster«, erklärte er. »Das Schreiben ist abhängig von körperlichen oder psycho-physiologischen Bedingungen. Hier, diese Buchstaben – an der Bewegungsrichtung der Federabdrücke kann man erkennen, dass es wohl ein Linkshänder war, der sie geschrieben hat. Und dennoch: Irgendetwas stimmt nicht mit diesem Brief, Cyprian, und ich hoffe, dass ich herausfinden kann, was es ist.«
»Du wirst dein Bestes geben«, ermunterte ihn Warnstedt, während er die von Lina beschriebenen Seiten aus dem Notizbuch riss und sie seinem Kollegen reichte. »Danke, Fritz.«
»Gern geschehen. Wenn mir etwas auffällt, werde ich es dich sofort wissen lassen.«
»Sehr gut.« 22. Kapitel
Am Tag nach der Beerdigung war Robert Fichtner bereits um Viertel vor vier erwacht. Er wälzte sich auf der Matratze hin und her und versuchte, die Alpdrücke der Nacht zu verscheuchen, was ihm nur unzureichend gelang, bis er gegen halb sechs genug hatte und seine Beine aus dem Bett schwang.
In zweifacher Hinsicht war er ermüdet. Zum einen wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er endgültig allein war auf dieser Welt, in der es niemanden mehr aus seiner Familie gab außer ihm; zum anderen empfand er just in diesem Moment die körperliche Mattheit und den Fluch seiner Krankheit umso stärker.
Seine Sinne waren geschärft, sein Gehör nahm Geräusche wahr, von denen er nicht wusste, ob sie tatsächlich vorhanden waren. Vor einigen Monaten, als gerade die Schwindsucht bei ihm diagnostiziert worden war, hatte er irgendwo gelesen, dass sich bei fortschreitendem Krankheitsverlauf Wahnvorstellungen und aberwitzige Fantastereien einstellen könnten. Mit der Regelmäßigkeit eines Perpendikels summte ein Ton in seinem Kopf und pochte an die Schädeldecke wie der Klöppel des Stephansdoms.
Der Sektionsrat begab sich in die Küche, wo er aus einer Blechdose ein paar Khatblätter herausfingerte, die er dann in den Mund nahm und mit der Zunge in die Backentaschen schob. Sowie dies getan war, suchte er sich im Schlafzimmer aus seinem Schrank einige der wärmsten Kleidungsstücke heraus und stellte daraus eine Kombination zusammen, die ebenso praktisch wie modisch war. Er zog den Schlafrock aus und schlüpfte in die andere Garderobe. Als er beim Verlassen der Wohnung einen flüchtigen Blick in den Spiegel warf, der neben der Eingangstür an der Wand hing, wurde ihm bewusst, dass es einen trostloseren Anblick, wie er ihn gerade bot, wohl nicht hätte geben können. Seine Augen waren so stechend, dass sie auf jeden, und sei er noch so abgehärtet, beunruhigend wirken mussten.
Robert spürte, dass er sein Gefühl der Ohnmacht und Schwäche angesichts dieser vertrackten Situation nur durch Taten lindern konnte. Tief atmete er ein und aus, bevor er die Tür aufschloss und über die Schwelle trat. Er hatte sich vorgenommen, einen kleinen Abstecher in die Apotheke zu machen, um dort eine Packung Hirschhornsalz zu kaufen. Er wollte gerüstet sein für den Fall, dass ihm wieder einmal durch das Stocken des Atems das Bewusstsein schwand.
Seine Schritte hallten geräuschvoll wider, als er über das Pflaster ging. Die Laternen, die in unregelmäßigen Abständen an den Häuserwänden angebracht waren, spendeten ein Licht, dessen ursprüngliche Intensität vom dichten Novembernebel geschluckt worden war. Ab und an vernahm er dumpfe Stimmen, die von unten aus den Ritzen der Kanaldeckel drangen. Die Kanalstrotter waren wieder unterwegs und fischten Knochen und Fett aus dem Abwassersystem, um sie an die Seifenfabriken zu verkaufen. Schlagartig wurde es Fichtner bewusst, dass es auch unter den Gesunden welche gab, die übel dran waren, und seine Miene hellte sich ein wenig auf.
Nachdem er geraume Zeit in der Kälte gewartet hatte, bis die Apotheke geöffnet worden war, erledigte Fichtner seine Besorgungen und kehrte danach in ein Kaffeehaus ein, wo er sich nach der Möglichkeit erkundigte, eventuell eine Flasche Milch zum Mitnehmen zu erstehen. Die Bedienung hatte die Ausstrahlung eines Trutscherls, eines zwar netten, doch etwas unbeholfenen Mädchens, und starrte ihn geistlos an. »I muss schaun«, meinte sie träge und verschwand in der Küche. Wenig später brachte sie ihm eine Milchflasche. Der Sektionsrat bestellte noch ein Butterkipferl, bezahlte dann, wobei er ein beträchtliches Trinkgeld gab, und machte sich auf den Heimweg.
Wiederum begrüßte ihn sein Spiegelbild, als er die Wohnung betrat. Seine
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