Sinfonie des Todes
das Impressum und ging zum Telefonapparat. Er ließ sich mit dem Katholischen Waisenhilfsverein verbinden, dem Inhaber der St.-Norbertus-Druckerei. Nach wenigen Minuten und ein paar freundlich ausgetauschten Floskeln hatte er die Auskunft, die er wollte, nämlich die Adresse einer der staatlichen Druckereien. Mit einem letzten Anruf bestellte sich Fichtner eine Kutsche vor seine Wohnung, bevor er sich ausgangsfertig machte.
Die Druckerei, die er suchte, war im Erdgeschoss eines mehrstöckigen Zinshauses untergebracht, das mit allen Finessen des Strengen Historismus erbaut worden war. Der Sektionsrat betrat das Gebäude durch eine große Flügeltür und sah sich sogleich von allerlei emsigen Buchbindern und Handwerksburschen umgeben. Alles erinnerte Fichtner an das Bild einer frühindustriellen Fabrik: Es gab einzelne Abteilungen, die durch gläserne Trennwände voneinander separiert waren und in denen spezialisierte Arbeitskräfte ihre eingeübten Handgriffe im Akkord verrichteten. Farbige Papiersorten und Haufen fester Pappe stapelten sich in einer Ecke, daran anschließend standen die Linotype-Maschinen, die von einem guten Dutzend Setzern bedient wurden. Das Pfeifen der Druckluft, welche die Matrizen bewegte, verhalf dem Lärmpegel in dem Raum zu seiner geräuschvollen Konstante. Auffallend war der hohe Anteil an Frauen, den Robert auf ungefähr 80 Prozent schätzte.
Er fragte sich zu einem der Buchbindermeister durch, und der Weg, der ihm gewiesen wurde, ließ ihn durch eine Ansammlung von seidenen Lesebändchen, Pergament und Leder schlängeln. Zu beiden Seiten waren Leute damit beschäftigt, durch Gaze und Leim die Vorsätze mit den Buchrücken zu verbinden.
»Sind Sie Herr Sehlen? Sie wurden mir soeben empfohlen«, wandte sich Fichtner schließlich an einen hageren Mann mittleren Alters.
Sehlen nickte, während er einen dicken Buchblock beiseite legte, dessen Schnittverzierungen er gerade geprüft hatte. »Womit kann ich dienen?«
»Was wissen Sie über die Kassenbücher des kaiserlich-königlichen Kriegsministeriums?«, fragte der Sektionsrat. »Können Sie mir diesbezüglich einige Auskünfte geben?«
Der Hagere sah ihn interessiert an. »Entschuldigen Sie, wenn ich nachfrage: Aber was haben Sie damit zu tun? Sind Sie befugt, derlei Erkundigungen einzuholen?«
Fichtner griff in die Tasche seines Mantels und holte seinen alten Ausweis hervor, den er nie weggelegt und sogar mit nach Meran genommen hatte.
»Gendarmerie also«, bemerkte Sehlen.
Robert bejahte. Skrupel konnte er sich nicht mehr leisten, da es um seinen toten Bruder ging.
»Nun gut, was wollen Sie wissen?«
»Erstens mal bräuchte ich Informationen über den Vertriebsweg der Kassenbücher, die Sie erstellen.«
»Die Kassenbücher? Sie meinen die, die das Ministerium ordert?«
»Ebendiese.«
»Nun, da gibt es zweierlei Sorten. Einmal die ganz normalen Kassenbücher, die wir drucken und binden und die man auch in jeder Papeterie kaufen kann. Und dann gibt es noch die Sonderanfertigungen.«
»Warum eine Sonderanfertigung, wenn die Bücher im regulären Handel zu erstehen sind? Wozu dieser Mehraufwand?«
»Wir sind eine staatliche Einrichtung«, gab Sehlen Auskunft. »Die normalen Kassenbücher werden praktisch zum Selbstkostenpreis abgegeben. Es ist nur folgerichtig, dass die Ministerien ihre Vorlagen, Dokumente und Bücher bei uns drucken lassen. Doch es geht hier nicht um den Inhalt, sondern um die Deckblätter. Die Buchblöcke selbst unterscheiden sich nicht bezüglich ihrer Strapazierfähigkeit; sie sind gleichermaßen reißfest, leicht und biegsam wie alle anderen. Aber das Kriegsministerium wollte einen Einband mit eingestanztem Signet.«
»Kommt das oft vor?«
»Ja, das ist keineswegs unüblich. Jede Firma besitzt einen Markennamen oder ein Logo, das künstlerisch gestaltet wurde. Jetzt sind gerade Elemente des Jugendstils in Mode: dekorativ geschwungene Linien und florale Ornamente.«
»Wenn jemand ein Buch verliert oder eines nachbestellen möchte, geht das dann den bürokratischen Weg?«
»Nein, wir sind da nicht so kleinlich. Ein Telefonat oder ein kurzes Telegramm – und schon legen wir eine Sonderanfertigung zur Seite. Meistens holt dann irgendeine Sekretärin das Produkt ab.«
Der Mann griff nach einem Buchblock, bei dem er mit dem Finger den Schnittverzierungen entlangfuhr. Robert Fichtner dachte nach, und aus einer plötzlichen Eingebung heraus zog er das Barytpapier mit dem Foto seines Bruders aus der
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