Sinfonie des Todes
darüber bewusst zu sein, dass er immer noch das kaputte Glas umklammert hielt. Er wollte dieses Grinsen wegschlagen, dieses höhnische Lachen, das ihm ständig irgendwo begegnete, das ihm seine Schwäche und sein Versagen zeigte. Er sah nicht mehr Maria vor sich, sondern dachte nur noch an all die Demütigungen, die er im Verlauf seines Lebens erfahren hatte.
Wissel war es, als rolle er einen gewaltigen Berg hinab, als stürze er von einem Wasserfall, der höher war als alle Katarakte der Welt. In seinem Kopf pochte es, und Myriaden von Stimmen flüsterten ihm zu. Er sah, wie sich seine Hand bewegte, wie sie ein ums andere Mal nach vorn und wieder zurück fuhr, doch er fühlte sich wie abgespalten von ihr. Seine Finger gehörten ihm nicht mehr, sondern hatten sich verselbstständigt und taten, was sie tun mussten, ohne dass er etwas dagegen unternehmen konnte.
Endlich hörte die Faust auf zu schlagen. Gustav keuchte, Schweiß rann ihm die Schläfen entlang; wie zum Hohn war seine Hand nicht noch schwerer verletzt worden. Als sein Geist wieder zu arbeiten begann und die Gedanken und sein Bewusstsein zurückkehrten, wich er erschrocken zur Seite. Was er vor sich sah, war kein Frauengesicht mehr, sondern eine blutige Masse Fleisch und Knochen. Die scharfe Kante des Glases hatte die Wangen aufgeschlitzt, die Zähne lagen mehrheitlich frei. Ein Auge war geplatzt, das andere starrte ihn glasig an.
Vorsichtig stupste er an Marias Arm. Sie bewegte sich nicht. Da begann Gustav unkontrolliert zu zucken. Tränen traten ihm in die Augen, und er flüsterte: »Was hab ich getan? Was hab ich nur getan?«
Er glitt rückwärts vom Bett, stellte sich taumelnd auf die Beine und entfernte sich mit unsicheren Schritten, ohne den toten Körper aus den Augen zu lassen. Ein starker, gnadenloser Bann hielt ihn an Marias Anblick gefesselt und zwang ihn, das schreckliche Bild für immer in seinen Geist einzubrennen. Als er mit der Ferse unvermittelt an die Flasche Absinth stieß und diese geräuschvoll umfiel, löste sich seine Starre und panisch drehte er sich um, rannte zur Tür, riss sie auf und polterte die Treppe hinunter. Alles in Gustav drängte hinaus auf die Straße, an die frische Luft, wo er in das nächste enge Gässchen einbog und sich erbrach.
21. Kapitel
Die Kälte machte Cyprian zu schaffen, als er am frühen Montagmorgen aus der Kutsche stieg und auf das Gendarmeriegebäude zulief. Er hauchte sich in die Handflächen, um diese ein wenig zu erwärmen, und war froh, endlich die Eingangstür erreicht zu haben.
Im Büro erwartete ihn Werlhoff, der mit einer Zeitung wedelte, sobald er seines Vorgesetzten ansichtig wurde. Ein breites Grinsen zierte sein Gesicht.
»Könnte sein, dass wir ihn haben!«, rief er fröhlich und klatschte die aktuelle Morgenausgabe der österreichischen Kronen-Zeitung auf den Tisch.
»Wovon sprichst du? Wen sollen wir haben?«
»Wilhelm Fichtners Mörder. Sieh her, da steht es, schwarz auf weiß.«
Cyprian runzelte die Stirn und goss sich erst einmal einen Kaffee ein. »Du glaubst doch wohl nicht der Boulevardpresse?«, fragte er zweifelnd.
Werlhoff schüttelte den Kopf. »Nein, denen nicht. Aber dem anonymen Schreiber schon eher. Hier, lies mal!«
Neugierig geworden, beugte sich der Inspektor über den Artikel. Die reißerische Überschrift sprang ihm sofort ins Auge: ›Brutaler Brudermord hält Gendarmerie in Atem‹.
Warnstedt pfiff durch die Zähne. »Brudermord? Das heißt, Robert soll der Täter sein?« Er nahm einen Schluck aus der heißen Tasse und genoss die Wärme, die sich langsam in seinem Körper ausbreitete.
»Ja, er wurde gesehen«, antwortete Oskar geflissentlich.
Cyprian griff nach der Zeitung und las den Artikel mehrere Male. Schließlich resümierte er: »Die Redaktion hat also einen anonymen Brief bekommen, in dem steht, dass Robert zur Tatzeit gesehen worden sei, und zwar aus dem Haus der Fichtners flüchtend.« Nachdenklich rieb sich der Inspektor den Nasenrücken und begann, im Zimmer umherzugehen. Werlhoff beobachtete seinen Vorgesetzten abwartend.
Nach wenigen Augenblicken blieb dieser abrupt stehen und schüttelte energisch den Kopf. »Ich glaube einfach nicht, dass er etwas mit dem Mord zu tun hat; das traue ich ihm nicht zu. Wenn ich diesen Fall charakterisieren sollte, so würde ich eher sagen, dass sich alles um Spielsucht dreht. Wer auch immer im Dunstkreis der Fichtners verkehrt, sie alle sind entweder aufbrausend wie dieser Schlözer, verdorben wie seine
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