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Singularität

Singularität

Titel: Singularität Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Stross
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Welt entwickelt hatte.
    Irgendwann hatte auch sie sich im Laufe der Jahre verändert.
Sie hatte Jahrzehnte damit verbracht – und zwar den
größten Teil ihres zweiten Lebensabschnitts im frühen
vierundzwanzigsten Jahrhundert –, die Übel zu
bekämpfen, die mit der Verbreitung von Atomwaffen
einhergingen.
    Angefangen hatte sie als eine Vertreterin der direkten Aktion, die
Dreadlocks trug und sich selbst an Zäune kettete. In ihrer
jugendlichen Naivität war sie überzeugt gewesen, ihr
könne nichts passieren. Später hatte sie gemerkt, dass sie
weitaus mehr erreichte, wenn sie ein schickes Kostüm trug und
angeheuerte Soldaten sowie die Drohung, man werde den Kredithahn
sperren, ihre ruhigen Ausführungen unterstützten.
    Immer noch aufsässig und direkt, aber längst nicht mehr
die Nonkonformistin, die auf Teufel komm raus vorgegangen war, hatte
sie gelernt, sich das System mit größtmöglicher
Wirkung zu Nutze zu machen. Die vielköpfige Schlange schien
halbwegs unter Kontrolle – eine Bombardierung kam nur noch alle
paar Jahre vor –, als Bertil sie nach Genf bestellt und ihr
einen neuen Job angeboten hatte. Damals hatte sie bereut, dem
Kosmologen nicht besser zugehört zu haben, denn die algerischen
Heiligen der Letzten Tage waren sehr gründlich dabei
vorgegangen, die Häresie der Tipleriten [xvi] zu unterdrücken. Aber diese Chance war vertan, und die
Untersuchungsprotokolle des Ständigen Ausschusses, der sich mit
der Geschichte und der zu erwartenden künftigen Entwicklung von
Kriegen befasste, hätten sie in jedem Fall zur Zusage bewogen.
    Irgendwann im Laufe der Jahre hatte sich die Idealistin in ihr mit
der Pragmatikerin angelegt, und die Pragmatikerin hatte den Sieg
davongetragen. Vielleicht war der Samen dazu schon in ihrer ersten
Ehe gelegt worden, vielleicht war es auch erst später geschehen.
Ein Schuss in den Rücken und die sechs Monate, die sie
anschließend zur Genesung in einem Krankenhaus in Kalkutta
verbracht hatte, hatten sie verändert. Auch sie selbst hatte
ihren Anteil an Schießereien gehabt, zumindest hatte sie die
Maschinerie von Präventivschlägen gelenkt und mehr als eine
Zelle von Fanatikern, die über Atomwaffen verfügten,
liquidiert – ob es Unabhängigkeitskämpfer in
Mittelasien gewesen waren oder Fremdenlegionäre, die eine Bombe
zu viel im Keller gebunkert hatten. Sie hatte auch einen
denkwürdigen Einsatz gegen radikale Abtreibungsgegner geleitet,
denen jede militante Maßnahme recht gewesen war, um das
ungeborene Leben zu schützen. Der eigene Idealismus vertrug sich
nicht mit den Idealen so vieler anderer Menschen, deren Wahl der
Mittel alle hehren Absichten Lügen strafte.
    Drei Tage nach dem verheerenden Anschlag auf das
InterCity-Gebäude war sie durch Manchester gewandert, ehe der
Regen die traurigen Schlackenberge und Knochen aus den Straßen,
die in Schutt und Asche lagen, hatte fortschwemmen können.
Inzwischen war sie so zynisch geworden, dass ihr nur noch ein
völliger Wechsel der Perspektive, ein distanzierter Blick auf
die Aussichten der Menschheit dabei hatte helfen können, die
Selbstachtung zu bewahren. Also war sie zur Neuen Republik
aufgebrochen. Schlimmstes kulturelles Notstandsgebiet, offen gesagt
ein Scheißort, der es dringend nötig hatte, sich in jeder
Hinsicht zu erneuern, damit er nicht noch seine aufgeklärteren
Nachbarn wie die Fürstentümer Malacia oder Turku
verseuchte. Aber immerhin waren die Einheimischen Menschen. Und wenn
sie noch so wild mit den Maschinerien der Massenvernichtung
herumhantierten, offenbar ohne deren Wirkung abschätzen zu
können, hatten sie Besseres verdient, als sie von einem
alarmierten, aufgebrachten Eschaton empfangen würden. Auch
durfte man nicht zulassen, dass sie sich blutige Köpfe bei einem
unbegreiflichen Phänomen wie dem Festival holten – was
immer es auch sein mochte, denn auch das hatten sie nicht verdient.
Wenn das Ganze über ihren geistigen Horizont hinausging, musste
sie es wohl übernehmen, das Undenkbare an ihrer Stelle zu
denken, und sie dabei unterstützen, irgendein Arrangement mit
dem Festival zu treffen, falls das überhaupt möglich war.
Bei dem Wenigen, was die Vereinten Nationen über das Festival
wussten, war das Alarmierende (und das Einzige, das sie Bauer nicht
mitgeteilt hatte), dass die vom Festival kontaktierten
technikfeindlichen Kolonien schlichtweg verschwanden: Wenn das
Festival wieder fortzog, blieben nur Trümmer zurück. Warum
das so war, wusste sie nicht, aber es ließ

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