Sinnliche Maskerade
beim Wachsen zuschauen konnte, erfüllte sie mit einem Triumphgefühl. Und doch, die Kraft, die sie aufwenden musste, um ihre Tarnung aufrechtzuerhalten, saugte sie förmlich aus.
Lady Maude hatte ein ganz besonderes Ziel vor Augen, als sie mit festem Schritt die Halle durchquerte. Denn sie hatte beobachtet, wie ihr Ehemann die Bibliothek verlassen hatte, was bedeutete, dass Mistress Hathaway nun allein war. Die Bibliothekarin hatte irgendetwas an sich, was Lady Maude irritierte, Sir Stephen aber unverständlicherweise nicht zu bemerken schien. Irgendwie wirkte sie hinterhältig, und manchmal wurde Lady Maude den Eindruck nicht los, dass die Frau sogar auf sie hinabblickte. Was natürlich lächerlich war. Diese Mistress Hathaway war schließlich nicht mehr als eine Bedienstete, ja, sicher, eine gut ausgebildete Bedienstete der oberen Ränge, ungefähr auf der Ebene einer Gouvernante. Aber trotz ihres zurückhaltenden Benehmens, ihrer niedergeschlagenen Augen und der kaum mehr als nur flüsternd von sich gegebenen Antworten war nach Lady Maudes Meinung irgendetwas nicht in Ordnung. Natürlich lag es an ihrer Tüchtigkeit, dass Sir Stephen dafür blind war. Er wollte einfach nicht erkennen, dass mit der Frau irgendetwas nicht stimmte, wollte nicht sehen, wie es manchmal in ihren Augen aufblitzte, wie ihre Lippen verächtlich zuckten oder wie streng ihre Stimme klang, wenn sie beim Whist die Gewinnerkarte auf den Tisch legte. Solange sie seine Investitionen auf Pfade lenkte, die noch größere Reichtümer versprachen, würde er diese Dinge weder sehen noch auf seine Frau hören wollen, die versuchte, ihn darauf hinzuweisen.
Leise öffnete Lady Maude die Tür zur Bibliothek. Mistress Hathaway saß am Schreibtisch und hatte den Kopf in die Hände gestützt, die darüber hinaus untätig waren. Lady Maude lächelte.
»Ah, ich freue mich, dass Sie gerade nichts zu tun haben, Mistress Hathaway. Ich hatte mir schon gedacht, dass Sie ein wenig Zeit erübrigen können, denn schließlich verbringen Sie zahlreiche Stunden ganz allein in diesem Zimmer.« Sie deutete abwertend auf die Bücherregale. »Wie auch immer, ich habe eine weitere Aufgabe, mit der Sie sich in Ihrer freien Zeit beschäftigen können.«
Abrupt hob Alexandra den Kopf. Ihr Herz pochte so schnell, als sei sie gerade aus dem Schlaf gerissen worden. Mit einer Mischung aus Erstaunen und Ängstlichkeit betrachtete sie die Hausherrin. Im Grunde genommen war Maude ihr bisher weitgehend unbekannt, obwohl Alex die Boshaftigkeit der Frau durchaus gespürt hatte, ohne allerdings einen Weg gefunden zu haben, diese Boshaftigkeit zu neutralisieren. Sie beschränkte sich auf ein »Ach, wirklich, Ma’am?« und zog die Brauen hoch.
»Ja, ich möchte, dass Sie den Unterricht für Master George übernehmen«, verkündete die Lady, »nächstes Jahr soll er nach Eton gehen. Seine Arithmetik und sein Latein müssen aufgefrischt werden. Mein Ehemann hat mir berichtet, dass Sie in beidem bewandert sind. Daher dürfte es Ihnen ein Vergnügen sein, Master George bei seinen Vorbereitungen zu unterstützen.«
»Ich bin keine Gouvernante, Ma’am«, protestierte Alexandra sanft, schaffte es jedoch nicht, den funkelnden Ärger in ihren grauen Augen zu unterdrücken. »Ihr Ehemann hat mich als Finanzberaterin und als Bibliothekarin angestellt. Ich versichere Ihnen, dass mir für andere Dinge wenig Zeit bleibt.«
»Unsinn«, verkündete Lady Maude und wedelte mit ihrem Fächer. »Als ich hereinkam, haben Sie am Schreibtisch gedöst. Wenn Sie Zeit haben, nachmittags zu schlafen, haben Sie auch Zeit, meinen Sohn zu unterrichten, Mistress Hathaway.«
Angesichts der beleidigenden Bemerkung stand Alex der Mund offen.
»Verzeihen Sie, Ma’am, aber ich habe nicht geschlafen. Gerade eben erst hat Sir Stephen nach einer anstrengenden Besprechung seiner finanziellen Lage das Zimmer verlassen. Ich habe mich darauf vorbereitet, die Katalogisierung der Bücher in Kürze wieder aufzunehmen.«
»Nun, das mag sein. Ich möchte trotzdem, dass Sie diese zusätzliche Aufgabe übernehmen. In Master George werden Sie einen ausgezeichneten und aufmerksamen Schüler haben. Er erwartet Sie im Schulzimmer, gleich morgen nach dem Frühstück.«
Wortlos starrte Alexandra die Frau an. Es hatte ihr tatsächlich die Sprache verschlagen. Das blassgelbe Kleid ihrer Dienstherrin öffnete sich vorn über einem Unterrock aus orangerotem Damast; die dicke Puderschicht über den Sommersprossen half leider nicht gegen
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