Sinnliche Maskerade
gefunden, Dich zu besuchen. Vielleicht nur für eine Nacht, aber ich sehne mich schmerzlich danach, Dich zu sehen. Geht es Dir gut? Hast Du alles, was Du brauchst? Oh, ich will gar nicht davon anfangen, wie sehr ich Dich vermisse. Ich muss endlich wieder ordentlich mit jemandem reden. Niemals hätte ich es für möglich gehalten, wie schwierig es ist, eine solche Täuschung aufrechtzuerhalten. Oder zumindest nicht für solch lange Zeit. Alles läuft, wie wir es geplant hatten. Außer ... nun, es ist etwas geschehen, was wir nicht geplant hatten. Ein Gast unseres Stiefbruders hat mich enttarnt. Jetzt aber keine Panik, Liebes! Ich glaube, es kommt alles in Ordnung. Er weiß nicht, wer ich wirklich bin, und hat versprochen, Stillschweigen zu bewahren. Und überhaupt, in ein oder zwei Tagen reist er aus Dorset ab. Ich hingegen reise unter dem Vorwand nach London, den Markt für Papas Bibliothek zu erkunden. Oh, es bricht mir das Herz, daran zu denken, dass diese wundervollen Bände in Bibliotheken überall im Land und sogar im Ausland zerstreut werden. Aber sie gehören nicht uns. Also ist es meine Pflicht gegenüber Papa, ein gutes Heim für sie zu finden. Cousin Stephen habe ich er-zählt, dass ich nach London reisen muss, um den Wettbewerb unter den Käufern anzuregen. Er ist nur daran interessiert, den besten Preis zu erzielen, weshalb es ziemlich einfach war, ihn zu überzeugen, dass dies auf keinem anderen Weg geschehen könne. Unglücklicherweise war ich gezwungen, die Begleitung des erwähnten Gastes zu akzeptieren, um unserem lieben Cousin die paar Guineas zu ersparen, die es gekostet hätte, Vorreiter zu bezahlen. Aber sobald Combe Abbey in sicherer Entfernung hinter uns liegt, werde ich ihm den Laufpass geben und den Kutscher anweisen, einen Umweg über Barton einzuschlagen. Erwarte mich in ungefähr einer Woche. Drück Matty ein Küsschen von mir auf die Wange.
Deine Dich liebende Schwester,
A.
Sylvia starrte auf den Brief in ihrem Schoß. Alex klang zu unbekümmert; Sylvia verstand sich durchaus darauf, zwischen den Zeilen zu lesen. Es war unverkennbar, dass ihre Schwester Angst hatte. Und das aus gutem Grund. Falls tatsächlich jemand ihre wahre Identität entdeckt hatte, musste sie Combe Abbey sofort verlassen. Nur dass aus diesem Brief nicht klar wurde, dass Alexandra die Absicht hatte, das Spiel tatsächlich ein für alle Mal zu beenden.
»Was ist los, meine Liebe? Ist alles in Ordnung? Mistress Alex ... sie ist doch wohl nicht etwa krank?« Mattys besorgte Stimme drang in Sylvias ängstliche Grübelei.
»Nein ... nein, ganz im Gegenteil.« Das fröhliche, selbstsichere Lächeln auf ihren Lippen gab ihre wahren Gefühle nicht preis, als sie aufschaute. »Sie kommt auf einen Besuch. In einer Woche, schreibt sie. Ist das nicht wunderbar?«
»Oh, du lieber Himmel, ja! Das gute Kind endlich wiederzusehen! Ich muss backen. Den Holunderbeer-Käsekuchen, den sie so gerne isst ... oh, und einen Pfefferkuchen und die Mandelkekse ...« Matty eilte davon und ging im Geiste ihren Vorrat an Köstlichkeiten durch.
Sylvia lächelte, obwohl ihr Lächeln sich rasch verflüchtigte, als sie den Brief ihrer Schwester zum zweiten Mal las. Wer war dieser mysteriöse Gast ihres Stiefbruders? War er alt, jung, verheiratet? Falls es sich um einen Freund von Marcus Crofton handelte, durfte angenommen werden, dass er eher jung war, aber nicht unbedingt alleinstehend.
Alex war ihrem Stiefbruder das erste Mal begegnet, kurz bevor sie auf Combe Abbey ihre neue Aufgabe übernommen hatte. Ihrer Schwester hatte sie nur berichtet, dass Marcus etwa Mitte zwanzig sein mochte und beim Dinner recht angenehm und liebenswürdig gewesen war, ohne ihr allerdings größere Beachtung zu schenken - genau so, wie es beabsichtigt war. Wie also hatte es geschehen können, dass es einem seiner Freunde gelang, Alexandras Maskerade zu durchschauen?
Seufzend faltete Sylvia den Brief zusammen. Wahrscheinlich würde sie es schon bald erfahren. Und wie sie ihre Schwester kannte, würde sie es bestimmt schaffen, zu Besuch zu kommen. Sylvia wusste nur zu gut, dass ihre Schwester nicht zu den Leuten gehörte, die sich von ihrem Weg abbringen ließen. Diese Scharade in Combe Abbey war ganz allein Alexandras Idee gewesen. Sylvia hatte sich dagegen ausgesprochen, hatte die Risiken erkannt, war bei dem Gedanken erschrocken gewesen, ihre Schwester allein in die Höhle des Löwen ziehen zu lassen. Aber Alex war unerbittlich geblieben. Es gab keinen anderen
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