Sinnliche Maskerade
Mädchen ihre eigenen Schlafräume im Erdgeschoss bezogen hatten. Viele Stunden hatten Alex und Sylvia dort verbracht, insbesondere dann, wenn ihre Mutter auf ihren Streifzügen unterwegs war und Sir Arthur sich in seine Bibliothek zurückgezogen hatte. Die Stimmung im Hause war dann ungeheuer drückend; Mattys Reich hingegen strahlte Wärme in diesem frostigen Land aus, in dem die Dienerschaft sich herumtrieb und hinter vorgehaltener Hand flüsterte. In Mattys Hafen gab es keinen Tratsch. Was auch immer sie über das umherschweifende Eheweib ihres Dienstherrn dachte - es drang niemals an die Öffentlichkeit.
Sylvia gähnte und trank den letzten Tropfen ihrer Milch.
»Komm ins Bett, Alex. Du bist schon seit heute Morgen auf der Straße. Matty hat recht, du siehst vollkommen fix und fertig aus.«
Alex konnte sich gar nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal ohne Angst geschlafen hatte. Die Aussicht auf den nächsten Morgen suchte ihre Nächte heim, sodass sie auf Combe Abbey morgens oft mit dem Gefühl aufwachte, kein Auge zugetan zu haben. Aber die wundervolle Entspannung, die sie jetzt empfand, würde dafür sorgen, dass sie wie in einen tiefen Abgrund der Bewusstlosigkeit stürzte.
Ihr Nachthemd lag schon auf dem Bett, das sie sich mit ihrer Schwester teilen würde. Alex hob es auf und sog den Lavendelduft des weichen Batists ein. Ihre Nachthemden auf Combe Abbey waren aus dicker, steifer Baumwolle mit üppigen Falten. Für eine verarmte Bibliothekarin unbestimmbaren Alters hätten die Wäschemädchen weiche Seide und spitzenbesetzten Batist für unangemessen gehalten.
Rasch zog sie sich aus und kletterte neben ihre Schwester in das hohe Federbett.
»Oh, was für ein Segen.« Sie rutschte tiefer, drehte sich auf die Seite, schob die Hand unter das Kissen und drückte es sich an die Wange. »Gute Nacht, Sylvia.«
»Gute Nacht, meine Liebe.« Sylvia stopfte ihrer Schwester die
Decke um die Schultern und lächelte, als sie feststellte, dass Alex bereits eingeschlafen war. Im flackernden Kerzenlicht lehnte sie sich in die Kissen zurück und wünschte sich, dass es irgendeinen Weg gäbe, Alex die schwere Bürde leichter zu machen, die sie für beide trug.
Kurz nach Morgengrauen erwachte Peregrine im Angel. Er läutete nach heißem Wasser und Kaffee und zog sich hastig an. Voller Tatendrang und Erwartung gönnte er sich ein üppiges Frühstück in seiner privaten Stube, serviert von einem eher schläfrigen Dienstmädchen, und ging dann zu seinem Leihpferd, das die Nacht im Hof des Gasthauses verbracht hatte. Er hatte beschlossen, das Pferd selbst zum Stall zurückzubringen, wo der Mann, mit dem er am vergangenen Abend gesprochen hatte, das Geld mit einem lakonischen Nicken entgegennahm und das Pferd wegführte.
»Können Sie mir noch eine Frage beantworten?«, rief Perry dem Mann nach. »Wissen Sie, wer in Barton in dem Haus lebt, das ganz am Ende des Dorfes steht? Es ist ein bisschen größer als die anderen.«
»Glaub schon.« Der Mann nickte, er hielt die Zügel immer noch ein Stückchen über dem Maul des Tieres. »Das muss Mistress Matty sein. Ist schon fast sechs Jahre dort, zusammen mit der armen, kranken Lady, um die sie sich da kümmert. Mistress Sylvia, glaube ich. Wir sehen sie nicht oft. Schwaches Herz, heißt es. Aber Mistress Matty ist eine gute Frau. Ist eine von uns.« Er nickte entschlossen und führte das Pferd in den Stall.
Sylvia? Peregrine erinnerte sich an Alexandras Ausrutscher vom letzten Abend. Sie hatte ein Wort aussprechen wollen, dann aber abgebrochen. Vielleicht war diese Sylvia die Schwester, de-ren Namen sie nicht nennen wollte. Er ging zum Angel zurück, um Sam abzuholen.
Bei hellem Tageslicht war die Straße nach Barton eine ganz andere Sache. In Sonnenlicht getaucht, schien die Heide längst nicht so bedrohlich wie am Abend zuvor; er kam an Eselskarren vorbei, an Reitern und Männern mit Mistforken. Im Dorf selbst war es ruhig. Er ritt an einer Frau vorbei, die in einem der Vorgärten Wäsche unter dem Apfelbaum aufhängte, an einer Gruppe kleiner Kinder, die Eimer von der Quelle in der Mitte des Dorfes nach Hause schleppten. Mit neugierig aufgerissenen Augen starrten die Kinder den Fremden auf dem hübschen grauen Pferd an. Ich bin ja fast eine Zirkussensation, dachte Peregrine und schenkte ihnen ein Lächeln, das sie hoffentlich als beruhigend empfanden. Vor der Frau mit der Wäsche zog er den Hut und trieb sein Pferd weiter bis zum letzten Haus.
Im Vorgarten
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