Sinnliches Erwachen
Aktivitäten aufgezählt hatte statt einer Berufswahl? Tja, das hatte einen guten Grund. Sie hatte nie gewusst, wie lange sie leben würde, also war ihr eine Karriere relativ sinnlos erschienen. „Was ist mit Ihnen?“, fragte sie. „Was wollten Sie immer machen?“
„Genau das, was ich tue.“ Unverwandt sah er sie an. „Du könntest all das, was du aufgezählt hast, immer noch machen.“
„Wohl eher nicht. Das würde mein Herz nicht erlauben.“ Sollte er glauben, sie hätte zu viel Angst – lieber das als die Wahrheit.
„Du hast recht.“
Moment. „Was?“
„Wenn Worte die Macht haben, über Leben und Tod zu entscheiden, hast du dir gerade eine geladene Pistole an die Schläfe gesetzt.“
„Was reden Sie da? Das ist doch absurd.“
„Du sagst, was du glaubst, und du glaubst, du wärst zum Scheitern verurteilt. Wenn es eins gibt, was ich über die Jahre gelernt habe, dann das: Was du glaubst, ist die Triebfeder für dein gesamtes Leben.“
Ärger flammte in ihr auf und ließ ihr Herz einen Schlag aussetzen. „Ich glaube an die Realität.“
Er winkte ab. „Deine Wahrnehmung der Realität ist verzerrt.“
Ach, tatsächlich? „Und wie das?“
„Du glaubst, was du siehst und spürst.“
„Äh, tut das nicht jeder?“
„Alles in dieser natürlichen Welt ist veränderlich. Vergänglich. Aber die Dinge, die du nicht sehen oder spüren kannst, sind ewig.“
Mit einem Knall setzte sie ihre Tasse auf den Tisch. Tee schwappte über und verbrühte ihr die Hand. „Jetzt hören Sie mal gut zu. Vielleicht kriegen Sie da oben, wo Ihr Kopf wohnt, keine Luft, aber Sie hören sich an wie ein Geisteskranker.“
„Ich bin nicht geisteskrank. Ich weiß, dass du geheilt werden kannst.“
Geheilt? Als hätte sie nicht schon längst alles versucht. „Manche Dinge kann man nicht ändern. Außerdem haben Sie keine Ahnung von dem, was ich getan habe, oder von der Zukunft, die mir blüht.“
„Ich weiß mehr, als du denkst. Du hast so viel Angst davor, zu leben, dass du dich wortwörtlich umbringst.“
Schwer senkte sich Schweigen über sie. Er … hat den Nagel auf den Kopf getroffen, dachte sie. Hilflos hatte sie zugesehen, wie die Angst langsam, aber sicher jeden Funken Glück in ihrer Schwester zerfraß, jede Facette ihrer Existenz trübte. Und in den letzten Tagen, bevor sie im Krankenhaus gelandet war, war das alles gewesen, was Laila gehabt hatte. Eine Existenz.
Ununterbrochen hatte sie Magenschmerzen gehabt, die ihr jeden Appetitverdorben hatten. Bei Nicola war es im Augenblick ganz ähnlich.
Laila hatte Gewicht verloren, selbst ihre Knochen hatten gewirkt, als würden sie dahinwelken. In ein paar Monaten wäre es auch bei Nicola so weit.
Lailas Haar hatte seinen üppigen Glanz verloren. Blauschwarze Ringe hatten sich unter ihren Augen festgesetzt. Ja, noch zwei, drei Monate mehr und auch das würde Nicola ihr gleichtun.
„Irgendwann in deinem Leben hast du die Hoffnung verloren“, stellte Koldo unerbittlich fest. In seiner Stimme lag ein grimmiger Unterton, als hätte er selbst einen Verlust erlitten. „Aber wenn du mir zuhörst, wenn du tust, was ich dir sage, werden dein Herz und dein Körper sich erholen. Dann kannst du endlich all die Dinge tun, die du schon immer tun wolltest.“
„Woher wollen Sie das wissen?“, schleuderte sie ihm entgegen. „Sind Sie etwa Arzt? Und was, glauben Sie, könnten Sie für mich oder mit mir tun, was nicht schon längst jemand anders versucht hat?“
Doch er ignorierte ihre Fragen und sagte nur: „Selah, Nicola.“
Und damit verschwand er – im einen Moment da, im nächsten fort.
4. KAPITEL
Unvermittelt hatte Koldo sich aus dem Krankenhaus teleportiert – irgendwie musste er Nicola doch zum Nachdenken bewegen. Ziel war sein unterirdisch gelegenes Heim am West India Quay in London – der Ort seiner größten Schande.
Der Ort, an dem er seine Mutter gefangen hielt.
Die kleine, verborgene Höhle war erfüllt vom weichen grünlichen Leuchten eines Sees, den die Menschen noch nicht entdeckt und verseucht hatten. Die Luft um ihn herum war so frisch, dass sie förmlich knisterte vor Lebenskraft.
Genau wie in seiner Wohnung in Südafrika hatte er hier keine Möbel, keine Wandbehänge, weder Dekorationen noch jegliche Annehmlichkeiten. Anders als in der anderen Höhle gab es hier jedoch einen Käfig, einen Eimer für Essen, einen weiteren für Wasser und dazu eine dünne Decke. Er hätte seiner Mutter auch ein Bett zur Verfügung stellen können,
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