Sinnliches Erwachen
auf sie herab, die goldenen Augen umrahmt von den schwärzesten, dichtesten Wimpern aller Zeiten, vollkommen unerwartet in diesem rauen, kantigen Gesicht eines zeitreisenden Kriegers.
„Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“, fragte sie.
„Nein, aber du kannst einen Kaffee mit mir trinken.“
Nein hatte er gesagt. Und gemeint, dass sie ihm nicht helfen konnte. Diese Sache mit der Ehrlichkeit nahm er anscheinend ziemlich ernst. Und hatte er sie gerade … um ein Date gebeten? „Warum denn das?“, fragte sie sich laut. Und warum hatte sie nicht einfach Nein gesagt? Sie musste zurück zur Arbeit, und zwar ziemlich bald. Ihre Mittagspause war fast vorbei.
„Ich will noch nicht nach Hause.“
Ah. Also kein Date. Er sehnte sich einfach nach einer Ablenkung von was auch immer ihn in den Palast von Tränen und Tod verschlagen hatte – wie gut sie das nachfühlen konnte. Und sie war keineswegs enttäuscht, dass er ihr gegenüber keine romantischen Absichten hegte. Wirklich nicht. Ihre Mutter hatte recht gehabt. Jungs waren gleichbedeutend mit Aufregung, und Aufregung war gleichbedeutend mit einem weiteren Herzanfall. Und sie hatte Jungs und Aufregung auch ehrlich gar nicht so sehr vermisst, weil sie immer Laila gehabt hatte. Aber Laila war … war …
„Kaffee klingt toll“, krächzte sie und spürte, wie ihr Kinn anfing zu zittern. Offensichtlich brauchte auch sie eine Ablenkung. Ihre Pläne konnten warten. Genau wie die Arbeit. Jetzt war es erst mal wichtiger, dass sie sich aus diesem Morast von Selbstmitleid befreite. „In dem Gang da hinten gibt’s ein kleines Café.“
Er trat wieder an ihre Seite, und diese köstliche Hitze kehrte zurück. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, gefolgt von weiteren Blicken und sogar ein paargeflüsterten Kommentaren. Die Leute mussten schockiert sein von ihrem Größenunterschied, und das konnte Nicola ihnen auch nicht verdenken. Ihr Kopf reichte dem Mann nicht einmal bis an die massigen Schultern.
„Also, wie heißen Sie?“, wollte sie wissen.
„Koldo.“
Koldo. Das musste was Ausländisches sein. Mit dem Siezen hatte er es ja auch nicht so. „Ich bin Nicola.“
„ Nicola . Latein für ‚siegreiches Volk’.“
Sie bogen um die erste Ecke, aber ihre Umgebung veränderte sich dadurch nicht wirklich. Hier waren alle Flure gleich: weiß und silbern mit Schildern an den Wänden. „Äh, haben Sie das gerade heimlich auf einem unsichtbaren Smartphone nachgeguckt, oder wussten Sie das?“
„Ich wusste es.“
„Warum?“
„Worte sind wichtig, machtvoll. Und da man jeden Tag mehrmals mit seinem Namen angesprochen wird, werden die Leute oft zu dem, wie sie heißen. Ich weiß gern, mit wem ich es zu tun habe.“
Tja, dann würde sie ihm nicht seine Illusionen nehmen, indem sie ihm erzählte, dass sie die wenig siegreichste Person überhaupt war. „Was bedeutet Laila ?“
„Dunkle Schönheit.“
Interessant. Laila war zwar hellhaarig, aber bezaubernd war sie auch. „Was bedeutet Koldo ?“
„Ruhmreicher Krieger.“
Ein Krieger, wie sie im ersten Moment vermutet hatte? Sie fragte sich, ob er Soldat war. „Sind Sie wirklich ‚ruhmreich’? So richtig berühmt?“
„Ja.“
Ohne Zögern. Ohne Stolz. Für ihn schien das eine schlichte Tatsache zu sein. Diese Selbstsicherheit bewunderte sie. „Also, was machen Sie beruflich, Koldo?“
„Ich bin Soldat.“
Volltreffer!
Noch zweimal abbiegen, dann hatten sie das Café erreicht. Er führte sie an einen leeren Tisch. „Was hättest du gern, Nicola?“
Ihr Name von seinen Lippen … wie eine Umarmung und ein Fluch in einem. Es warf sie fast ein wenig aus der Bahn. „Ach, ich kann auch …“
„Du wirst mich nicht beleidigen, indem du mir anbietest, selbst zu bezahlen“, fiel er ihr ins Wort, und diesmal klang er wirklich beleidigt. „Also. Versuchen wir es noch einmal. Was hättest du gern? Ich lade dich ein.“
Sie lächelte. Noch nie hatte jemand darauf bestanden, sie zu einem Getränk einzuladen. Die meisten Angebote kamen von Kollegen, die um ihre Situation wussten, und wurden bloß anstandshalber ausgesprochen. Sobald sie erklärte, sie würde ihre Rechnung selbst übernehmen, gab ihr Gegenüber sich normalerweise damit zufrieden. „Einen Kräutertee, bitte. Irgendwas ohne Koffein. Und vielen Dank.“
Ein knappes Nicken, dann war er fort und ließ sie fröstelnd zurück. Sie sah zu, wie er auf die Theke zuschritt. Beobachtete, wie die punkige Kassiererin ihn vollkommen fasziniert anstarrte.
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