Sinnliches Erwachen
zu nehmen und sofort zu verschwinden. Doch er war gefangen gewesen in einem Körper, der sowohl zum Laufen als auch zum Teleportieren zu geschwächt war. Ihm war nichts anderes übrig geblieben, als zuzusehen, wie dem Mann dünne Rauchschwaden aus den Poren drangen und die Luft mit Schwefelgestank erfüllten.
Und in diesem Augenblick hatte die Erkenntnis Koldo getroffen wie mit einem Vorschlaghammer. Ein kahler Kopf, Augen wie Teergruben und schwarzer Rauch konnten nur eins bedeuten. Nefas. Sein Vater gehörte der gefährlichsten, abscheulichsten Rasse an, die es gab. Einer Rasse, die sich an Menschen heranmachte, sie langsam und schmerzhaft vergiftete … und sie unwiederbringlich zerstörte. Einer Rasse ohne Gewissen.
Einer Rasse, die den Dämonen in nichts nachstand.
Die Nefas waren Todbringer. Seelenräuber.
Ihnen war es egal, wie alt ihre Opfer waren. Ihnen war egal, welchem Geschlecht ihre Opfer angehörten. Sie lebten, um Schmerz zuzufügen. Sie töteten. Und dabei lachten sie aus vollem Hals.
„Keine Sorge“, hatte der Mann gesagt. „Das treiben wir dir schon wieder aus.“
Nox hatte von Koldo erwartet, dass er sich die Lebensweise der Nefas zu eigen machte, und Koldo hatte sich dagegen gewehrt … anfangs. Aber jedes Mal, wenn er versucht hatte, zu fliehen, sich wegzubeamen, war sein Vater ihm direkt auf den Fersen gewesen. Hatte ihn mit Leichtigkeit aufgespürt und ihn zurückgeschleift – um ihn zu bestrafen. Einmal hatte Nox ihn gefesselt und ihn gezwungen, Säure zu trinken. Beim nächsten Mal hatte er Koldo ein Auge ausgerissen und es an einen der Gitterstäbe seines Käfigs genagelt – damit er sich dabei zusehen konnte, wie er sichzusah. Koldo hatte sich das Auge zurückerobern müssen – und es dann wieder an seinen Platz gestopft. Zu jenem Zeitpunkt war er bereits ein wenig älter gewesen und hatte es halbwegs heilen können. Doch seitdem war seine Sehfähigkeit nie wieder die alte gewesen.
Bitterkeit und Hass waren in ihm gewachsen. Warum er? Warum hatte ihn niemand gerettet? Wie viel würde er noch ertragen müssen?
Schließlich hatte er seinen Kampfeswillen verloren. Er hatte nachgegeben. Hatte Dörfer überfallen. Hatte seinem Vater und den anderen Soldaten geholfen, ihre Münder über die ihrer Opfer zu zwingen und unschuldige Seelen in sich aufzusaugen, sodass nichts als leblose Hüllen zurückblieben.
Um zu überleben, tut ein Mann so gut wie alles, Kleiner.
Das war die einzige Lektion seines Vaters, die er beherzigt hatte.
Mittlerweile war Koldo sich sicher, dass er längst über den Punkt hinaus war, an dem man ihm noch Vergebung gewährt hätte. Er hätte härter kämpfen können. Hätte härter kämpfen sollen . Dass er es nicht getan hatte … Dafür würden ihn auf ewig Schuldgefühle verfolgen, auf ewig würde ihn die Scham erdrücken.
Er hatte zu viele Erinnerungen. Erinnerungen dunkelster Art, die niemals verschwinden würden. Jede einzelne weckte in ihm den Wunsch, sich die Augen auszureißen, nur damit er nicht mehr sehen müsste, oder sich die Ohren abzuschneiden, nur um die Schreie zum Verstummen zu bringen.
Über die Jahre hatte er sich einen so weitreichenden Ruf erarbeitet, dass Germanus auf ihn aufmerksam geworden war. Eine Armee von Himmelsgesandten war in das Lager seines Vaters eingefallen, um Koldo zu vernichten. Doch als sie die Narben auf seinem Rücken entdeckt hatten, waren sie irrtümlicherweise davon ausgegangen, er wäre kein Nefas, denn Nefas hatten keine Flügel, wohingegen Koldo offensichtlich einmal welche besessen hatte. Also hatten die Soldaten ihn stattdessen gefangen genommen.
Das war der Beginn seines neuen Lebens gewesen.
Germanus – ein Name, den man mit „Bruder“ übersetzen konnte – hätte ihn trotz seiner Herkunft hinrichten können … und vermutlich auch sollen. Koldo war wie ein Tier gewesen. Hatte gefaucht und um sich geschlagen und jeden beschimpft und angegriffen, der sich in seine Nähe wagte. Nach allem, was er getan hatte, nach all den Menschen, die er getötet hatte, sollte er sich vergeben und sich wieder dem „rechtschaffenen“ Weg zuwenden? Unmöglich!
Doch Germanus’ Blick hatte die Oberfläche durchdrungen. Er hatte die Scham und Schuld in Koldos Augen erkannt. Rohe und überwältigende Emotionen, selbst damals.
Die nächsten paar Jahre hatte der König der Gesandten damit verbracht, Koldo sanft aus seinen Wutanfällen zurückzuholen. Hatte sein Bestes getan, einen jungen Mann mit einer so traumatischen
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