Sinnliches Erwachen
sehr nervöser und sehr reizbarer Boss ihr eröffnet, dass er beschlossen hatte, zwei weitere Buchhalter einzustellen. Der Schock hatte ihr fast den Boden unter den Füßen weggerissen. Seit Monaten bettelte sie schon um eine zweite Kraft, und jedes Mal hatte er sie angewiesen, sich „mit der Situation zu arrangieren“.
Im Augenblick arbeitete sie für fünf. Anfangs hatte sie es noch hinbekommen. Aber nachdem Laila ins Krankenhaus eingeliefert worden war, hatte sie langsam den Anschluss verloren.
„Also … Was wird von mir erwartet?“, fragte Jamila brüsk.
Nicola erzählte ihr ein wenig über das Arbeitssystem, und auch wenn sie höchst ungern Fremden gegenüber persönliche Dinge preisgab, fügte sie schließlich hinzu: „Ich werde Ihnen in der Einarbeitungsphase so gut wie möglich zur Seite stehen, aber um ehrlich zu sein, ist meine Schwester … Sie liegt im Sterben …“, selbst das Wort auszusprechen, fiel ihr schwer, „… und sie … Na ja, ich muss ab und zu tagsüber das Büro verlassen.“ Früher oder später hätte Jamila es sowieso herausgefunden. Es wären Anrufe gekommen, Papierkram wäre auf ihrem Schreibtisch gelandet oder Kollegen hätten es erwähnt.
So spielte sie wenigstens von Anfang an mit offenen Karten.
Jamila lehnte sich zurück – eine Haltung, in der sie eigentlich entspannt hätte wirken sollen. Stattdessen sah sie noch steifer aus. „Das tut mir leid.“
Das sagten sie immer. Nicola fragte sich, was Koldo der Ehrliche gesagt hätte.
Allein beim Gedanken an ihn begann ihr Herz zu flattern. Sie räusperte sich. „Manchmal müssen wir Angestellte zur Rede stellen, die ihre Bücher nicht abgegeben haben. Die suchen immer wieder Ausreden, aber da müssen Sie dranbleiben.“
„Das wird kein Problem sein.“
Kein Zusammenzucken, kein Erblassen.
„Gut, dann werden Sie hier zurechtkommen.“ Außer, du starrst mich weiter so finster an.
„Hey Leute. Ich bin Sirena, melde mich zum Dienst.“
Nicolas Aufmerksamkeit verlagerte sich auf die junge Frau, die jetzt an der Tür stand. Sie war vielleicht zwei, drei Zentimeter größer als Nicola, trug ein schlecht sitzendes schwarzes Jackett und die dazugehörige Hose mit einer pinkfarbenen Bluse, um das düstere Outfit aufzupeppen. Ihr Haar war lang und blond und seidenglatt. Auf der Nase trug sie eine Hornbrille, hinter der große, blaue Puppenaugen hervorschauten.
„Oh, ach ja“, setzte sie an, als sie die Tür hinter sich schloss. Mit fließenden Bewegungen glitt sie zu dem letzten freien Stuhl und ließ sich nieder, dann streckte sie Nicola einen kleinen Geschenkkorb entgegen. „Das ist für dich. Ich hab mich so drauf gefreut, mit dir zusammenzuarbeiten, da musste ich einfach was mitbringen.“
Wie lieb. „Danke.“ Mit einem Lächeln nahm Nicola das Geschenk entgegen. Ein Badezusatz mit Jasminduft und eine Geißblatt-Bodylotion.
„Wie es hier aussieht.“ Staunend blickte Sirena sich um. „Groß ist es nicht, aberheimelig und einfach toll, oder?“
Heimelig? Einfach toll? Ganz sicher nicht. Ihr Büro hatte schmucklose weiße Wände und einen grau gestrichenen Betonfußboden. Die einzigen Möbel waren der Schreibtisch, Nicolas Stuhl und die zwei Stühle davor. Und auf keinem davon lag ein Kissen.
In ihren ersten paar Monaten hier hatte Nicola Bilder von ihrer Familie an die Wände gehängt, aber jedes Mal, wenn sie sie angesehen hatte, waren die Erinnerungen auf sie eingeströmt.
Sie hatte ihre Mutter schreien hören: „Was denkt ihr euch denn dabei, so laut zu lachen? Aufregung ist nicht gut für euch! Wollt ihr denn sterben? Wollt ihr mir gleich die nächste Depression aufhalsen?“
Sie hatte sich daran erinnert, wie ihr Vater ihr den Kopf gestreichelt und gesagt hatte: „Jeden Abend, wenn ich einschlafe, habe ich Angst, meine geliebten kleinen Mädchen nie wiederzusehen.“
Tja, diese Angst hatte sich bewahrheitet, aber nicht auf die Art, die er erwartet hatte. Es war sein Leben, das von einem alkoholisierten Autofahrer vorzeitig beendet worden war, weswegen er sie tatsächlich nie wiedergesehen hatte.
Bilder von Laila riefen ihr nur in Erinnerung, was sie allzu bald verlieren würde. Ihre beste Freundin, ihre Vertraute, ihre größte Unterstützerin. Ihr Herz.
„Du kannst dir deine Ecke hier ganz nach deinen Wünschen einrichten“, erklärte sie und unterdrückte mit Mühe das Zittern ihres Kinns.
„Ich kann’s kaum erwarten!“, zwitscherte Sirena fröhlich.
Jamila versteifte sich, als wäre
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