Sinnliches Erwachen
ließ die Schultern hängen. „Also willst du, dass ich dir gehorche, wenn du mir sagst, ich soll … was?“
„Ruhig bleiben. Dich dem Frieden anheimgeben. Freude säen.“
„Anheimgeben? Säen?“
„Es gibt ein unumstößliches spirituelles Gesetz, das lautet: Man erntet, was man sät. Wenn du also in anderen Menschen Freude säst, wirst du selbst Freude ernten. Und Freude ist, was du im Moment brauchst.“
„Ruhe, Frieden, Freude“, wiederholte sie mit hohlem Klang. Als wäre er verrückt.
Vielleicht war er das auch. „Ja.“
„Warum willst du, dass ich diese Dinge empfinde?“
Wenn du es nicht tust, wird sich das Gift in deinem Körper ausbreiten, und irgendwann wirst du sterben, genau wie deine Schwester. Doch das waren nicht gerade beruhigende, friedliche, fröhliche Worte, also behielt er sie für sich.
„Willst du nicht lieber, dass ich, keine Ahnung, mir einen Bart wachsen lasse, ein bisschen größer werde und die Rolle des Koldo spiele – in einem netten kleinen Stück mit dem Titel ‚Was du da verlangst, ist unmöglich’? Das krieg ich hin, glaub ich.“
Alberne Menschenfrau. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er den Wunsch, zu lächeln. „Nein.“
Verzweifelt versuchte sie es weiter: „Was ist mit der Nummer von der Bedienung aus dem Café? Wir könnten sagen, ich geb sie dir, und wir sind quitt.“
Bedienung? „Weißt du noch, wie ich dir gesagt habe, ich könnte dir helfen, gesund zu werden?“
„Als könnte ich das je vergessen.“
„Das ist der Weg.“
Es verging ein Moment. Ein Moment, in dem sie ihn blinzelnd ansah. „Ruhe, Frieden, Freude“, wiederholte sie. „Sag mir, dass meine Schwester länger als noch ein paar Wochen lebt, und ich bin dabei.“
Als läge es in seiner Hand, wie lange ihre Schwester überlebte. Doch das wusste sie nicht, und sie versuchte, mehr Zeit herauszuschinden. „Es tut mir leid, dass ich mich nicht klar ausgedrückt habe. Ich habe dir mein bestes Angebot gemacht. Für deine Schwester kann ich nicht mehr tun als das. Deshalb sind meine Bedingungen nicht verhandelbar.“
„Hab ich mir schon gedacht, aber ich musste es wenigstens versuchen.“ Sie schenkte ihm das gleiche strahlende Lächeln, das er schon im Fahrstuhl bewundert hatte, und diesmal besaß er die Geistesgegenwart, sich den Anblick einzuprägen. Ein Bild, das er in den schlimmsten Nächten hervorholen würde, wenn die Vergangenheit drohte, aufzusteigen und ihn zu verschlingen. Sie war der Beweis, dass es auf der Welt mehr gab als Finsternis und Schmerz.
„Sind wir uns einig?“, fragte er.
„Sind wir.“
Er nickte. „Also gut. Lass nicht zu, dass die Ärzte die Maschinen abstellen. Ich bin bald zurück.“
„Aber …“
Doch er war fort, bevor sie den Satz beenden konnte. Jetzt zählte jeder Augenblick.
Er beamte sich zu Thane, der auf dem Krankenhausflur hin und her tigerte, und sagte ihm, wohin er wollte. Dann teleportierte er sich zu Zacharels Wolke auf einer der niederen Ebenen der Himmelreiche. Weil er keine Flügel hatte, konnte er nicht vor der Tür schweben, bis er hereingebeten wurde, deshalb hatte Zacharel eine Dauereinladung ausgesprochen – solange er nicht weiter ging als bis in die Eingangshalle.
„Zacharel“, rief er. Um ihn herum waberten Wände aus Nebel und versperrten den Blick auf den Rest der Behausung. Aber so funktionierten Wolken. Sie öffneten sich erst, während man durch sie hindurchschritt.
Sein Befehlshaber trat aus dem Dunst hervor, das schwarze Haar in Unordnung, das Gewand dreckig, zerrissen und blutbespritzt. Durch und durch goldene Flügel ragten hinter seinen Schultern empor, doch an einigen Stellen fehlten ganze Büschel von Federn.
In Koldo erwachte der Beschützerinstinkt. „Was ist mit dir passiert?“, verlangte er zu wissen. „Brauchst du Hilfe?“
Zacharel neigte den dunklen Kopf zur Seite, die grünen Augen glasig, als hätte er … geweint. „Im Augenblick ist keine Hilfe nötig. Du wirst gemeinsam mit den anderen Gesandten erfahren, was geschehen ist. Sehr bald wird ein Treffen einberufen werden, und jede Armee wird anwesend sein. Bis dahin … Was machst du hier, Koldo?“ Die letzten Worte waren als erschöpfter Seufzer hervorgekommen.
Koldo mochte und respektierte Zacharel. Der Krieger hatte die Verantwortung für die aufrührerischste Armee der Himmelreiche übernommen, und er scheute nicht davor zurück, sich die Hände dreckig zu machen, um jedem einzelnen seiner Soldaten aus der Patsche zu
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