Sinnliches Erwachen
Menschenstimmen erhoben sich in plötzlicher Panik. Stirnrunzelnd blieb Koldo stehen. Das Beben setzte sich fort, wurde stärker. Von oben ertönte ein Chor gequälter Schreie direkt aus dem Himmel.
Dann war alles wieder ruhig und still.
Erneut setzte er sich in Bewegung. Ein Erdbeben? Hier? Jetzt? Und zwar eins, das auch im Himmelreich Wirkung zeigte? Aber … das konnte nicht sein.
Als Thane ihn entdeckte, hielt er inne. „Was war das?“
„Keine Ahnung.“
„Na ja, spielt sowieso keine Rolle. Zacharel versucht gerade, herauszufinden, warum wir hergeschickt wurden, obwohl es offensichtlich keine echte Bedrohung gab. Bis dahin sollen wir erst mal nach Hause gehen. Mein Zuhause.“
„Wir sehen uns dort.“ Zuerst würde er nach Nicola sehen, nur um sicherzugehen, dass alles in Ordnung war.
Weil … ihr ein Dämon nach Hause gefolgt sein könnte, wurde ihm klar. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte Koldo genau dasselbe getan. Er wäre einem zukünftigen Opfer gefolgt. Und dann hätte er genau zum richtigen Zeitpunkt zugeschlagen, fern von allen Beschützern des Opfers.
Ein Dämon könnte ihr etwas angetan haben. Und Koldo stand einfach nur hier rum und tat nichts. Auf die Wände einzuprügeln erschien ihm plötzlich nicht mehr annähernd gewalttätig genug. Er wollte sich erwürgen!
Die Schreie der Unschuldigen … all die Menschen, die er verletzt hatte … all die Leben, die er genommen hatte … stiegen plötzlich in seiner Erinnerung empor.
Argwöhnisch musterte ihn Thane. „Du willst noch einen Umweg machen, oder?“
Ohne ein weiteres Wort verschwand Thane und materialisierte sich in dem kleinen, heruntergekommenen Haus mit dem fadenscheinigen Teppichboden und den gebrauchten Möbeln, die so hässlich waren, dass er sie nicht einmal seiner Mutter in den Käfig gestellt hätte.
Er hörte ein Geräusch – abgesehen von den Schreien.
Angespannt stürmte er durch die Wohnung und entdeckte Nicola in dem Schlafzimmer neben dem Wohnzimmer. Sie summte leise, während sie ihre Schwester zudeckte. Und sie war liebreizender, als es hätte möglich sein dürfen.
„Haben wir Schokolade?“, fragte Laila leicht undeutlich – entweder durchErschöpfung oder durch die Medikamente.
„Noch nicht, aber bald. Ich geh gleich einkaufen.“
„Du bist die Beste, Co-Co.“
„Das liegt daran, dass die ganze gute DNA von Mom und Dad bei mir gelandet ist“, zog Nicola ihre Schwester auf. „Du hast nur gekriegt, was übrig war.“
Laila lachte, während ihr schon die Augen zufielen. Koldo spürte seine Mundwinkel zucken.
„Hab dich lieb.“
„Ich hab dich auch lieb.“
Er sollte gehen. Er hatte kein Recht, hier zu stehen und sie zu beobachten; sich zu amüsieren, während das Blut der Vergangenheit von seinem Leib zu Boden tropfte. Hier ein Spritzer, da eine Pfütze, die alles befleckten, was er sah.
Plötzlich pressten sich seine Fäuste auf seine Augen, und er stolperte zurück. Hastig beamte er sich in sein Zimmer in Thanes Club und brach auf dem Boden zusammen, um jeden Atemzug ringend. Er war verdorben, Nicola war rein. Er war Eis, Nicola war Feuer.
Und er steckte in verdammt großen Schwierigkeiten. Schon wieder wollte er sie küssen.
Argh! Er sollte gar nichts von ihr wollen. Er konnte nicht mehr von ihr wollen. Er war nicht gut für sie. Nicht gut genug.
Helfen würde er ihr, aber er würde sichergehen müssen, dass er sie auf Abstand hielt. Er würde ihr helfen – und dann würde er sie gehen lassen.
Wie er damit zurechtkommen würde, wusste er nicht. Aber schön würde es nicht werden.
9. KAPITEL
Vor seinem Aufbruch aus dem Sündenfall hatte Thane seine Liebhaberin gebeten, in seinem Bett zu warten – damit sie genau dort wäre, wo er sie haben wollte, wenn er zurückkam. Sie hatte sich dazu bereit erklärt. Jetzt, bei seiner Rückkehr, betrachtete er sie. Goldenes und leuchtend rotes Haar ergoss sich über seine Kissen, die Strähnen wie lebendige Flammen. Um ihre Hand- und Fußgelenke lagen dünne Ketten, die ein Schmied der Unsterblichen geschaffen hatte.
Es waren Sklavenfesseln. Ihr Metall zwang sie, jedem Befehl ihres Eigentümers zu gehorchen, wie auch immer er lauten mochte. Thane verabscheute Sklaverei und hatte versucht, die Ketten zu lösen. Er hatte versagt.
Und darüber war er immer noch wütend.
Hilflos hatte er zuhören müssen, wie Dämonen Xerxes misshandelt hatten. Hilflos hatte er zusehen müssen, wie Dämonen Björn über ihm aufgehängt, wie sie ihm die Haut vom
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