Sinnliches Erwachen
Fingernägel. „Beachte das ‚fast’.“
„Da braucht wohl jemand eine Brille. Deine Locken sind blond, aber am Ansatz bist du rot“, gab Nicola zurück und ließ ihren Pferdeschwanz hüpfen. „Sieht ziemlich schlampig aus.“
Voller gespielter Empörung schnappte Laila nach Luft. „Dazu kann ich nur sagen, dass dieser Look im Moment der letzte Schrei ist. Das Höchstmaß an Style und absolut trendy.“
„Ich befolge keine Trends. Ich kreiere selbst welche.“
Grinsend streckte ihre Schwester die Hand nach ihr aus. „Du bist so was von lahm. Komm, lass uns weitergehen.“
Sie verschränkten die Finger miteinander und nahmen ihren Spaziergang wieder auf. Der Frieden dieses Augenblicks trug seinen Teil dazu bei, die Erinnerungen an die versuchte Vergewaltigung zu vertreiben – etwas, wovon sie ihrer Schwester nichts erzählt hatte. Immer wieder versuchten die Bilder, an die Oberfläche zu steigen. Während sie unter der Dusche stand. Wenn sie die Unterwäsche für den Tag aussuchte. Beim Frühstückmachen.
Einmal war sie fast weinend zusammengebrochen. Doch dann hatte sie sich an Koldos Kuss erinnert, seinen süßen, süßen Kuss. Seine Unsicherheit. Seine Verletzlichkeit. Sein Bestreben, dafür zu sorgen, dass sie es genoss. Und alles hatte sich verändert.
Er war ein so großer, starker Krieger. Es hatte eine Zeit gegeben, da hätte sie gewettet, dass nichts und niemand sein Selbstvertrauen ins Wanken bringen könnte. Und dann hatte sie es getan.
Als sei ihm ihre Meinung wichtig.
„Ich konnte dich hören, wenn du mich im Krankenhaus besucht hast, weißt du“, erklärte Laila und schnitt damit ein Thema an, das sie bisher gemieden hatten.
„Wirklich?“ Das hatte sie sich immer gefragt. Hatte es immer gehofft.
„Ja, und du hast mich länger dabehalten, als ich bleiben wollte. Jedes Mal, wennich gespürt hab, wie ich langsam wegdrifte, warst du sofort da, um mich zurückzuholen.“
„Das freut mich.“
„Aber mich nicht. Ich war bereit, zu gehen.“
Die Worte fühlten sich an wie ein Schlag in die Magengrube. „Tja, aber ich werde nie bereuen, dass ich dich nicht losgelassen habe, La-La. Ich liebe dich.“
„Und ich liebe dich auch.“ Lailas Lächeln war traurig. „Aber Co-Co, wenn wir je wieder in diese Situation kommen – und ich schätze, das werden wir –, will ich, dass du mich gehen lässt.“
Nicola blieb stehen und zwang ihre Schwester, dasselbe zu tun. Auge in Auge standen sie einander gegenüber, mitten auf dem Weg, sodass die Leute ihnen ausweichen mussten, um nicht in sie hineinzulaufen.
„Nein“, sagte sie und schüttelte den Kopf. „Das werde ich nicht tun. Ich werde mit aller Kraft um dich kämpfen.“ Und Koldo würde ihr zur Seite stehen. Oder?
Sie wollte daran glauben, doch es schien, als hätte er sie im Stich gelassen. Er hatte ihr eine Stunde pro Tag versprochen, um sie zu unterrichten, sie zu trainieren – und dann war er von der Bildfläche verschwunden und hatte in ihr den Verdacht geweckt, er könnte bereuen, dass er sich ihr gegenüber so verwundbar gezeigt hatte.
Und warum auch nicht? Sie konnte ihm nichts bieten. Er war hart, entschlossen und klug. Sie war schwach, wehrlos und unwissend.
Gereizt breitete Laila die Arme aus. „Sei doch mal vernünftig.“
Sich damit abzufinden, wenn eine Dreiundzwanzigjährige an einem Herzfehler starb, sollte vernünftig sein? „Koldo hat gesagt, wir müssen …“
„Argh. Koldo dies, Koldo das.“ Laila stemmte die Fäuste in die zu schmalen Hüften. Seit sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war, hatte sie zugenommen, aber noch lange nicht genug. „Du redest von nichts anderem mehr. Wer auch immer das ist, er belügt dich, Liebes. Warum begreifst du das nicht? Der ist genauso wenig ein Engel, wie ich die Zahnfee bin.“
„Stimmt. Er ist kein Engel. Er ist ein …“
„Ich weiß, ich weiß, aber das spielt keine Rolle. Wenn er sich so um deine Gesundheit sorgt, wo steckt er dann?“ Der Tonfall ihrer Schwester wurde wieder sanfter. „Warum ist er nicht hier und sagt mir diese Sachen selbst?“
Nicolas Schultern sackten hinab. „Ich weiß es nicht.“
Eine junge Mutter schob einen Kinderwagen an ihnen vorbei, und Laila streckte die Hand aus und zupfte an Nicolas Ohrläppchen. Im Hintergrund bellte ein Hund. „Er ist kein Himmelsgesandter, was auch immer das sein soll. Er ist ein Hochstapler.“
„Ich hab ihn aus dem Nichts auftauchen und wieder verschwinden sehen.“
„Du hast eine Illusion
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