Sinuhe der Ägypter
vereinten; da ward alles in meinem Innern geläutert, und alles Böse schien mir nichts als Spinngewebe, das man mühelos mit der Hand beseitigt. Dir zuliebe wollte ich gut sein und Menschen heilen, ohne auf die Geschenke zu achten, die sie mir dafür gaben; die dunklen Götter besaßen keine Macht mehr über mich. So ist es gewesen, seit du zu mir kamst. Doch wenn du mich jetzt verläßt, verdunkelt sich alles um mich herum, mein Herz gleicht einem einsamen Raben in der Wüste, und ich bin den Menschen nicht mehr gut gesinnt, sondern hasse sie, und sogar die Götter hasse ich und will nichts mehr von ihnen wissen. So ist es, Minea, und deshalb sage ich dir: es gibt auf Erden viele Länder, aber bloß einen einzigen Strom. Folge mir in das schwarze Land am Stromufer, wo die Wildenten im Schilf schnattern und die Sonne täglich in ihrem goldenen Nachen über den Himmel rudert! Komm mit mir, Minea, laß uns zusammen einen Krug zerbrechen und Mann und Frau werden und nie mehr voneinander scheiden! Dann wird uns das Leben leicht, und nach dem Tod werden unsere Leiber erhalten bleiben, damit wir uns im Land des Westens wiedersehen und in Ewigkeit zusammen leben.«
Aber sie preßte meine Hände in die ihrigen, berührte mit den Fingerspitzen meine Augen, meinen Mund und meinen Hals und sagte: »Sinuhe, selbst wenn ich wollte, könnte ich dir nicht mehr folgen. Es gibt kein einziges Schiff, das uns von Kreta fortzubringen, und keinen Kapitän, der uns in seinem Fahrzeug zu verstecken wagte. Man bewacht mich des Gottes wegen, und ich will nicht, daß man dich um meinetwillen tötet. Wenn ich auch wollte, könnte ich dich nicht begleiten; denn seit ich wieder vor den Stieren getanzt habe, ist ihr Wille stärker als der meinige, was ich dir zwar nicht erklären kann, weil du es nicht selbst erlebt hast. Deshalb muß ich in der Nacht des Vollmonds das Haus des Gottes betreten, und keine Macht der Welt kann mich daran hindern. Weshalb es so ist, kann ich nicht erklären. Vielleicht weiß es niemand außer Minotaurus.«
Das Herz war mir leer wie ein Grab, als ich sagte: »Ober den morgigen Tag weiß man nichts, aber ich glaube nicht, daß du aus dem Haus des Gottes, aus dem noch niemand zurückgekommen ist, wiederkehren wirst. In den goldenen Sälen des Meergottes wirst du vielleicht ewiges Leben aus dem Götterbrunnen trinken und alles Irdische, auch mich, vergessen, obwohl ich es nicht glaube; denn das sind lauter Märchen, und nichts von alldem, was ich bis heute in sämtlichen Ländern von den Göttern gesehen, war dazu angetan, meinen Glauben an die Märchen zu stärken. Wisse daher: Wenn du nicht nach Ablauf der festgesetzten Zeit zurückkehrst, werde ich dir in das Haus des Gottes folgen und dich dort abholen! Ich werde dich holen, selbst wenn du nicht mehr zurückkehren wolltest. Das tue ich, Minea, und sollte es meine letzte Tat auf Erden werden.«
Sie aber legte mir ängstlich die Hand auf den Mund, blickte sich um und sagte: »Still! So etwas darfst du nicht laut äußern, ja nicht einmal denken! Das Haus des Gottes ist ein dunkles Haus, in dem kein Fremder sich zurechtfindet; und wenn ein Ungeweihter es betritt, muß er eines fürchterlichen Todes sterben. Auch könntest du nicht hineingelangen; denn das Haus des Gottes ist durch kupferne Tore gesperrt. Darüber bin ich froh, weil ich weiß, daß du es in deinem Wahn wirklich tun und dich ins Verderben stürzen könntest. Aber glaube mir, ich werde freiwillig zu dir zurückkehren! Mein Gott kann nicht so grausam sein, mir die ersehnte Rückkehr zu dir zu verweigern. Er ist ein wunderbarer, herrlicher Gott, der die Macht Kretas stützt und allen gut gesinnt ist und daher die Olivenbäume gedeihen, das Getreide auf den Äckern reifen und die Schiffe von Hafen zu Hafen segeln läßt. Er sorgt für günstige Winde und steuert die Schiffe durch den Nebel, damit seinen Schutzbefohlenen nichts geschehe. Warum sollte er mir Schlechtes antun wollen?«
Sie war von Kindheit an im Schatten ihres Gottes aufgewachsen, ihre Augen waren verblendet, und ich konnte sie nicht sehend machen, obgleich ich Blinde mit der Nadel geheilt und ihnen das Gesicht wiedergegeben hatte. Da zog ich sie in der Wut meiner Machtlosigkeit auf den Schoß, küßte sie und streichelte ihre Glieder, und ihre Glieder waren glatt wie Glas, und wie ich sie in den Armen hielt, war sie für mich wie der Quell für einen Wüstenwanderer. Sie wehrte sich nicht, sondern preßte zitternd ihr Gesicht an meinen
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