Sinuhe der Ägypter
Haß ist immer noch gewaltig in Theben.«
Sie sprach die Wahrheit. Als wir Hand in Hand auf den offenen Platz vor dem Tempel zurückkehrten, spuckten die Leute, die das Kreuz Atons an meinem Kragen entdeckten, vor mir aus. Auch wunderte ich mich sehr, einen Ammonpriester unter dem Volk umhergehen zu sehen; sein Schädel war trotz Verbot des Pharao immer noch glattrasiert, und er trug ein weißes Gewand aus feinstem Leinen. Sein Gesicht glänzte von Fett, er schien nicht Not oder Mangel zu leiden, und die Menschen machten ihm voll Ehrfurcht Platz. Da Vorsicht eine Tugend ist, legte ich sicherheitshalber die eine Hand auf die Brust, um das Kreuz Atons zu verdecken; denn ich wollte kein unnützes Ärgernis erregen. Auch wollte ich nicht ohne Grund die Gefühle anderer Menschen verletzten, weil ich, im Gegensatz zum Pharao, einem jeden seinen Glauben lassen und vielleicht auch Merits wegen Unannehmlichkeiten vermeiden wollte. So blieben wir bei der Mauer stehen, um einem Märchenerzähler zuzuhören, der, einen leeren Krug vor sich, auf einer Matte saß, während das Volk um ihn her stand, und nur die Ärmsten, die nicht zu befürchten brauchten, ihre Kleider zu beschmutzen, gleich ihm auf dem Boden hockten. Das Märchen, das er erzählte, hatte ich jedoch noch nie gehört. Es handelte von einem falschen Pharao, der vor sehr, sehr langer Zeit gelebt und von Seth mit einer Negerhexe gezeugt worden, die der damals herrschende Pharao, durch ihre Zauberkünste betört, zu seiner Gemahlin erkoren hatte. Nach Seths Willen wünschte der falsche Pharao Verderben über das Volk Ägyptens zu bringen und dieses den Negern und Barbarenvölkern auszuliefern. Er stürzte die Statuen des Rê. Infolgedessen verfluchte Rê das Land, so daß es keine Früchte mehr trug. Überschwemmungen die Menschen ertränkten, Heuschrecken die Ernte von den Feldern fraßen, das Wasser der Weiher sich in stinkendes Blut verwandelte und Frösche in die Betten und Teigkrüge der Leute hüpften. Aber die Tage des falschen Pharao waren gezählt; denn die Kraft des Rê war der Kraft Seths überlegen, welcher, sorgfältig getarnt, den falschen Pharao zu seinem Tun antrieb. So kam es, daß der falsche Pharao und ebenso die Hexe, die ihn geboren, eines erbärmlichen Todes starben. Rê schlug alle, die ihn verraten hatten, nieder und verteilte ihre Häuser, ihre Habe und ihren Boden unter diejenigen, die während der Prüfungen an ihm festgehalten und an seine Rückkehr geglaubt.
Dieses Märchen war so lang und spannend, daß die Leute, vor Ungeduld schreiend, mit den Füßen trampelten und fragend die Hände hoben, um zu erfahren, wie es ausgehe; und auch ich hörte mit offenem Mund zu. Als das Mädchen schließlich damit endete, daß der falsche Pharao seine Strafe erhielt, in die Schlünde der Unterwelt geschleudert und sein Name verflucht wurde, während Rê seine Häuser, seinen Boden, seine Rinder und all seine Habe unter die ihm treu Gebliebenen verteilte, jubelten und tanzten die Menschen vor Begeisterung, legten Kupfer in den Krug des Märchenerzählers, und einige spendeten sogar Silber.
Ich war höchlich erstaunt und sagte zu Merit:
»Wahrlich, das ist ein Märchen, das ich noch nie zuvor vernommen, obgleich ich glaubte, als Kind alle Märchen gehört zu haben, die es gibt. Denn meine Mutter Kipa besaß eine so große Vorliebe für Märchen, daß mein Vater Senmut ihr und den Märchenerzählern, die sie in unserer Küche bewirtete, zuweilen mit dem Stock drohen mußte. Dieses ist aber tatsächlich ein neues Märchen, und zwar ein ganz gefährliches! Wenn es nicht unmöglich wäre, könnte ich beinahe glauben, daß es auf den Pharao Echnaton und den Gott, dessen Namen wir nicht laut nennen dürfen, gemünzt sei. Deshalb sollte es verboten sein, dieses Märchen zu erzählen.«
Merit lächelte: »Wer könnte wohl ein Märchen verbieten! Diese Geschichte wird in beiden Reichen an allen Toren und Mauern und sogar auf den Dreschböden der kleinsten Dörfer erzählt, und die Menschen lieben sie sehr. Wenn die Wächter den Märchenerzählern mit ihren Stöcken drohen, behaupten diese, es handle sich um ein uraltes Märchen – was sie beweisen könnten; denn die Priester hätten es nachweislich in vielhundertjährigen Schriften gefunden. Deshalb können ihnen die Wächter nichts anhaben, obwohl Haremhab, der ein grausamer Mann ist und sich nicht um Beweise und Schriften kümmert, in Memphis, wie es heißt, einige Märchenerzähler hat an die Mauer
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