Sinuhe der Ägypter
Menschenfleisch zu finden; denn in allen Städten und Dörfern am Stromufer geschah das gleiche: unzählige Menschen verloren in diesen Tagen das Leben, und ihre Leichname wurden in den Strom geworfen, so daß sogar die Krokodile in ihrer Nahrung wählerisch wurden. Die Krokodile sind nämlich kluge Tiere; sie zogen daher das weiche zarte Fleisch der Frauen und Kinder und die fetten Leiber der Vornehmen dem zähen Fleisch der Träger und Sklaven vor. Wenn die Krokodile Verstand besitzen, was sicher ist, dann haben sie wohl in jenen Tagen Aton sehr gepriesen.
Der ganze Strom stank nach Verwesung, und der Nachtwind trug uns einen scharfen Rauchgeruch aus Theben zu. Thotmes meinte spöttisch: »Wahrlich, das Reich Atons auf Erden scheint begonnen zu haben!« Ich aber verhärtete mein weiches Herz und sprach zu ihm: »Thotmes, etwas Derartiges hat sich noch nie zuvor ereignet, und der Welt wird nie mehr eine Gelegenheit wie diese geboten werden. Man kann kein Brot backen, ohne zuerst Getreidekörner zu zermalmen. Die Mühle Atons mahlt jetzt das Getreide. Laß uns um Pharao Echnatons willen das Mehl zu Brot backen – und wahrlich, die Welt wird sich wandeln, und alle Menschen werden schließlich Brüder vor Aton sein!«
Aber Thotmes trank Wein, um den Leichengeruch aus den Nüstern zu verjagen, und sagte: »Verzeih mir, wenn ich meine Schwäche durch Wein stärke! Offen gestanden, fürchte ich mich sehr, und meine Knie sind wie Wasser beim Gedanken an all das, was uns bevorsteht. Deshalb tut man in solchen Zeiten am besten daran, sich zu betrinken, weil sich der Mensch im Rausch nicht mit unnützen Gedanken abgibt und ihm dann Leben und Tod, Menschen und Götter gleichgültig sind.«
Als wir in Theben anlangten, brannte die Stadt an vielen Stellen. Sogar aus der Totenstadt züngelten Flammen empor; denn das Volk plünderte Gräber und verbrannte die balsamierten Leichname der Priester. Von den Mauern wurden Pfeile auf unser Schiff abgeschossen, ohne daß überhaupt jemand zuerst nach unserem Begehren gefragt hätte; und als wir am Ufer anlegten, waren aufgeregte »Kreuze« damit beschäftigt, »Hörner« ins Wasser zu werfen und mit Stangen auf diese zu schlagen, bis sie ertranken. Deshalb vermuteten wir, die alten Götter seien bereits gestürzt und Aton habe gesiegt.
Wir begaben uns geradenwegs in den »Krokodilschwanz«, wo wir Kaptah trafen. Er hatte die kostbaren Gewänder abgelegt, sich das Haar mit Schlamm statt mit Balsam eingerieben und das graue Kleid der Armen angezogen. Ebenso hatte er das Goldblech von seinem blinden Auge entfernt und setzte zerlumpten Sklaven und bewaffneten Trägern aus dem Hafen bereitwillig Getränke vor, indem er zu ihnen sprach: »Freut euch und jubelt, Brüder! Heute ist ein großer Freudentag: es gibt nicht mehr Herren und Sklaven, nicht mehr Hohe und Niedrige, sondern alle Menschen sind frei, zu kommen und zu gehen, wie es ihnen beliebt. Trinkt daher Wein auf meine Rechnung, und ich hoffe, ihr werdet euch meiner Schenke entsinnen, wenn das Glück euch günstig ist und ihr Silber und Gold aus den Tempeln der falschen Götter oder aus den Häusern hartherziger Herren rauben könnt. Ich bin nämlich ein Sklave wie ihr, als solcher geboren und aufgewachsen! Den Beweis liefert das Auge, das mir ein grausamer Herr mit seinem Schreibstift ausstach, weil ich von seinem Bier getrunken und den Krug mit meinem eigenen Wasser wieder angefüllt hatte. Solches Unrecht aber wird nie mehr geschehen, und keiner wird mehr als Sklave den Stock zu spüren bekommen oder mit seinen Händen arbeiten müssen: das Leben wird eitel Freude und Jubel, Tanz und Vergnügen sein, solange es währt!«
Erst jetzt entdeckte er mich und Thotmes und schämte sich ein wenig seiner Worte; er führte uns in ein Hintergelaß und sagte: »Ihr tätet vielleicht besser daran, billige Kleider anzuziehen und euch Gesicht und Hände mit Schlamm zu beschmieren. Denn Sklaven und Träger ziehen durch die Straßen, preisen Aton und hauen in seinem Namen auf jeden ein, der ihres Erachtens zu beleibt ist und keine Schwielen an den Händen hat. Mir haben sie meine Fettleibigkeit verziehen, weil ich selbst ein ehemaliger Sklave bin, Getreide unter sie verteilte und sie umsonst habe trinken lassen. Sagt, welch böses Geschick führt euch in diesen Tagen nach Theben, das augenblicklich für die Vornehmen ein schauerlicher Aufenthaltsort ist?«
Wir zeigten ihm unsere Äxte und Hämmer und erklärten, wir seien gekommen, die
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