Sinuhe der Ägypter
vermochte, ob ein Mann oder ein Weib sich mir näherte. Aber jemand trat an mich heran und versuchte, mir ins Gesicht zu sehen, um mich zu erkennen. Ich bewegte mich, und eine kindlich schrille, befehlende Stimme fragte: »Du bist es also, und ganz allein?« Da erkannte ich den Thronerben an der Stimme und an der schmächtigen Gestalt und verneigte mich vor ihm zu Boden und wagte nichts zu sagen. Doch er stieß mich ungeduldig mit dem Fuß und sagte: »Steh auf und benimm dich nicht einfältig! Niemand sieht uns, und du brauchst dich also nicht vor mir zu verneigen. Spare deine Verbeugung für den Gott, dessen Sohn ich bin, denn es gibt nur einen Gott, und alle anderen sind seine Offenbarungsformen, weißt du das?« Ohne eine Antwort abzuwarten, sann er eine Weile nach und fügte dann hinzu: »Alle anderen Götter, außer vielleicht Ammon, aber er ist ein falscher Gott.«
Ich machte eine abwehrende Handbewegung und sagte: »Oh!«, um zu zeigen, daß ich solche Reden fürchtete.
»Ach, laß sein!« sagte er. »Ich sah dich neben meinem Vater stehen und dem halbverrückten Ptahor Messer und Hammer reichen. Deshalb nannte ich dich den ›Einsamen‹. Meine Mutter aber gab Ptahor den Beinamen ›der alte Affe‹. Diese Namen werdet ihr tragen, falls ihr sterben müßt, bevor ihr den Palast verlasset. Deinen Namen habe ich selbst ausgeklügelt.«
Ich dachte, daß er tatsächlich krank und verrückt sein mußte, um solche sinnlosen Reden zu führen; aber auch Ptahor hatte gesagt, daß wir sterben müßten, falls der Pharao stürbe, und der Blutstiller hatte es geglaubt. Deshalb begannen mich die nachwachsenden Haare auf meinem Kopf zu kitzeln, und ich hob abwehrend die Hand, denn ich wollte nicht sterben.
Neben mir atmete der Thronfolger unregelmäßig und keuchend, seine Hände bewegten sich, und er murmelte vor sich hin. »Ich bin unruhig«, sagte er, »ich möchte anderswo als hier sein. Mein Gott wird sich mir offenbaren, ich weiß es, aber ich fürchte mich. Bleib bei mir, Einsamer, denn der Gott in seiner Kraft zermalmt meinen Leib und läßt meine Zunge erkranken, wenn er sich mir offenbart.«
Ich begann zu zittern, denn ich glaubte, daß er krank sei und irrerede. Doch er sagte in befehlendem Ton: »Komm!« Deshalb folgte ich ihm. Er führte mich von der Terrasse hinunter, an dem königlichen See vorbei, und hinter den Mauern vernahmen wir das Flüstern des trauernden Volkes als ein düsteres Gemurmel. Ich hatte große Angst, denn Ptahor hatte gesagt, daß wir vor dem Tod des Königs das Gebiet des Palastes nicht verlassen dürften, aber ich konnte dem Thronerben doch nicht widersprechen.
Er ging mit gespanntem Leib und ruckartig gleitenden Schritten, so daß ich mich anstrengen mußte, um ihm zu folgen. Er trug nur ein Lendentuch, und der Mond schien auf seine helle Haut, seine schlanken Beine und seine Oberschenkel, die breit wie die eines Weibes waren. Der Mond beleuchtete seine abstehenden Ohren und sein Antlitz, das gequält und aufgeregt schien, als folge er einem Gesicht, das kein anderer sehen konnte.
Als wir am Ufer standen, sagte er: »Wir nehmen ein Boot. Ich muß mich nach Osten begeben, um meinem Vater zu begegnen.« Ohne Wahl bestieg er das erste Fahrzeug, ein Binsenboot, und ich folgte ihm. Wir begannen über den Strom zu rudern, und niemand verfolgte uns, obwohl wir das Boot gestohlen hatten. Die Nacht war voller Unruhe, und viele Boote waren auf dem Strom, und immer stärker leuchtete vor uns am Himmel der rote Widerschein der Lichter Thebens. Als wir das Ufer erreichten, ließ er das Boot treiben und schritt, ohne sich umzusehen, vorwärts, als hätte er diesen Weg schon manches Mal zuvor beschritten. Da mir nichts anderes übrigblieb, folgte ich ihm mit angsterfülltem Herzen. Auch andere Leute waren auf den Beinen, und die Wächter riefen uns nicht an, denn Theben wußte schon, daß der König in dieser Nacht sterben werde.
Er ermüdete sich selbst mit seinem raschen Gang, und ich staunte über die Ausdauer seines schwachen Leibes, denn obgleich die Nacht bitterkalt war, rann mir der Schweiß über den Rücken, während ich ihm folgte. Die Sterne wechselten ihre Stellung, und der Mond ging unter. Er aber ging immer weiter, und wir stiegen aus dem Tal in die unbebaute Wüste und ließen Theben hinter uns, und vor uns ragten die drei Berge des Ostens, die Wächter Thebens, schwarz zum Himmel. Ich grübelte im stillen darüber nach, woher eine Sänfte für den Rückweg zu bekommen wäre,
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