Sinuhe der Ägypter
Leben dürsten. Deshalb wichen mir die Schlangen aus, stachen mich die Skorpione nicht, und vermochte mich die Sonnenglut der Wüste nicht zu ersticken. Selbst die Wächter des verbotenen Tales waren blind und taub und sahen mich nicht, noch hörten sie das ferne Rollen der Steine, als ich zu Tale stieg. Denn wenn sie mich gesehen hätten, wäre ich getötet und meine Leiche den Schakalen zum Fraß gegeben worden. Aber ich kam bei Nacht, und vielleicht fürchteten sich die Wächter vor dem Tal, das sie bewachten; denn die Priester hatten alle Königsgräber mit Beschwörungen verhext. Vielleicht wandten die Wächter das Gesicht ab und bedeckten das Haupt mit ihren Gewändern, als sie mich im mondbeschienenen Tal mit einer Ochsenhaut auf dem Rücken auftauchen sahen oder das Rollen der Steine am Berghang vernahmen, im Glauben, die Toten wanderten im Tal. Ich versteckte mich nicht und wich keinem aus, denn ich wußte nicht, wo die Wächter standen. So erschloß sich mir das verbotene Tal. Totenstill lag es vor meinen Augen und majestätischer in seiner Öde als lebende Pharaonen auf ihrem Thron.
Die ganze Nacht streifte ich umher, um die vermauerte, mit den Siegeln der Priester verschlossene Öffnung im Grabe irgendeines großen Pharao zu finden, denn nachdem ich einmal bis hierher gelangt war, fand ich nur das Beste gut genug für meine Eltern. Auch wollte ich das Grab eines Pharao finden, der vor nicht allzu langer Zeit das Boot Ammons bestiegen hatte, damit die ihm dargebrachten Opferspenden noch frisch und der Dienst in seinem Todestempel am Stromufer makellos waren, denn da ich meinen Eltern kein eigenes Grab leisten konnte, war nur das Beste gut genug für sie.
Im Licht des untergehenden Mondes hob ich im Sand neben dem Portal eines großen Pharaonengrabes eine Grube aus, und in sie versenkte ich die Ochsenhaut, in die ich die Leichen meiner Eltern eingenäht hatte, und bedeckte sie mit Sand. Weit draußen in der Wüste bellten die Schakale. So wußte ich, daß dort Anü umging und sich meiner Eltern annahm, um sie auf ihrer letzten Reise zu begleiten. Und ich wußte, daß die Herzen meiner Eltern die Probe vor Osiris bestehen würden, auch ohne die Totenbücher der Priester und ohne die auswendig gelernten Lügen, auf die die Reichen ihre Zuversicht setzen. Deshalb fühlte meine Seele eine große Erleichterung, während ich mit den Händen Sand über meine Eltern häufte: denn ich wußte, daß sie von Ewigkeit zu Ewigkeit in der Nähe des großen Pharao leben und demütig von den ihm dargebrachten guten Opferspenden genießen dürfen. Dies erreichte ich, indem ich meinen Leib den Speeren der Wächter in dem verbotenen Tal aussetzte, doch kann mir das nicht als Verdienst angerechnet werden, denn ich fürchtete ihre Speere nicht, weil mir der Tod in dieser Nacht süßer als Myrrhe gewesen wäre.
Doch während ich den Sand zusammenscharrte, stieß meine Hand an einen harten Gegenstand, und ich zog einen heiligen Skarabäus hervor, der aus rotem Stein geschnitten, mit Augen aus kleinen Edelsteinen versehen und mit heiligen Zeichen übersät war. Ein Zittern ging durch meinen Körper, und ich vergoß Tränen in den Sand, denn ich glaubte mitten im Tal des Todes von meinen Eltern ein Zeichen erhalten zu haben, daß sie zufrieden seien und sich wohl befänden. Das wollte ich glauben, obwohl ich wußte, daß der Skarabäus ohne Zweifel dem Grabgut des Pharao entfallen und in dem Sand verlorengegangen war.
Der Mond ging unter, und der Himmel färbte sich blaßgrau. Ich kniete in den Sand und hob meine Hände und nahm Abschied von meinem Vater Senmut und meiner Mutter Kipa. Mögen ihre Körper in Ewigkeit bestehen, und möge das Leben im Lande des Westens ihnen hold sein! Denn nur ihretwegen möchte ich, daß es ein Land im Westen gäbe, wenn ich auch nicht länger daran glaube. Dann erhob ich mich und ging meiner Wege, ohne mich umzublicken. In meiner Hand aber trug ich den heiligen Skarabäus, und groß war seine Kraft, denn die Wächter sahen mich nicht, obwohl ich sie erblickte, als sie aus ihren Hütten heraustraten und Feuer machten, um ihr Essen zuzubereiten. Groß war die Kraft des Skarabäus, denn mein Fuß glitt auf den Klippen nicht aus, und keine Schlangen und Skorpione kamen an mich heran, obgleich ich nicht mehr die Ochsenhaut auf meinem Rücken trug. Am Abend des gleichen Tages erreichte ich das Nilufer wieder und trank Wasser vom Nil, fiel zu Boden und schlief im Schilf. Meine Füße waren wund und
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