Sinuhe der Ägypter
einen Nachbarn, einen mächtigen Mann namens Anukis. Möge sein Leib vermodern! Seine Ländereien vermochte kein Auge zu ermessen, und die Zahl seiner Rinder war wie Sandkörner und ihr Gebrüll wie das Meeresbrausen, und trotzdem hatte er Verlangen nach meinem kleinen Stückchen Erde. Deshalb bereitete er mir allerlei Verdruß, und nach jeder Überschwemmung, wenn der Boden erneut ausgemessen wurde, sah er zu, daß der Markstein näher an meine Hütte versetzt wurde und ich von meinem Boden verlor. Und ich vermochte nichts dagegen, denn die Feldmesser hörten auf ihn und nicht auf mich, weil er ihnen wertvolle Geschenke machte. Auch dämmte er meine Bewässerungsgräben ab und hemmte den Wasserzufluß zu meinen Äckern, so daß meine Ochsen Durst litten, mein Getreide vertrocknete und das Bier in meinem Krug versiegte. Doch er, der im Winter in seinem großen Haus zu Theben wohnte und sich im Sommer auf seinen Gütern erholte, hörte meine Klage nicht, und seine Diener schlugen mich mit Stöcken und hetzten die Hunde auf mich, sobald ich mich ihm zu nähern wagte.«
Der Nasenlose seufzte tief und rieb meinen Rücken mit dem Öl ein. Dann fuhr er fort: »Vielleicht würde ich heute trotzdem noch in meiner Hütte wohnen, wenn die Götter mir nicht den Fluch einer schönen Tochter auferlegt hätten. Ich hatte fünf Söhne und drei Töchter – denn der Arme vermehrt sich rasch –, die mir später eine gute Hilfe waren und mir viel Freude bereiteten. Leider stahl mir ein wandernder syrischer Kaufmann einen von den Jungen im Kindesalter. Meine jüngste Tochter aber war eine Schönheit, und in meiner Torheit war ich stolz auf sie, so daß sie keine schwere Arbeit zu verrichten und ihre Haut nicht auf den Feldern zu verbrennen und auch kein Wasser zu schleppen brauchte. Weiser hätte ich gehandelt, wenn ich ihr das Haar abgeschnitten und das Gesicht mit Ruß eingeschmiert hätte. Denn mein Nachbar Anukis sah und begehrte sie, und von da an hatte ich keinen ruhigen Tag mehr. Er ließ mich vor Gericht laden und schwor, daß meine Ochsen seine Äcker zertrampelt hätten und daß meine Söhne böswillig seine Bewässerungsgräben abgedämmt und Tierleichen in seine Brunnen geworfen hätten. Weiter schwor er, ich hätte in den schlechten Jahren Getreide von ihm entlehnt. Und all das beeidigten seine Diener, und der Richter schenkte mir kein Gehör. Doch hätte er mich meinen Acker behalten lassen, falls ich ihm meine Tochter gegeben hätte. Darauf ging ich jedoch nicht ein, denn ich hoffte, daß meine Tochter dank ihrer Schönheit einen ehrlichen Mann bekäme, der in meinen alten Tagen für mich gesorgt und mich barmherzig behandelt hätte. Schließlich warfen sich seine Diener über mich, und ich hatte nichts zur Verteidigung als meinen Stock, mit dem ich einen von ihnen auf den Kopf schlug, worauf er starb. Alsdann schnitt man mir Nase und Ohren ab und schickte mich in die Grube, und zur Begleichung unbezahlter Schulden verkaufte man meine Frau und Kinder als Sklaven, die Jüngste aber behielt Anukis selbst, um sie, nachdem er mit ihr der Wollust gepflegt hatte, seinen Dienern auszuliefern. Deshalb glaube ich, daß man mich zu Unrecht in die Grube geschickt hat. Als mich der König jetzt, nach zehn Jahren, befreite, eilte ich sofort nach Hause, aber meine Hütte ist abgerissen, und auf meinen Wiesen weidet fremdes Vieh, und meine Tochter will nichts mehr von mir wissen, sondern hat mir im Hause der Viehhüter heißes Wasser über die Füße gegossen. Aber ich vernahm, daß Anukis gestorben ist und daß sein großes Grab in der Totenstadt Thebens liegt und eine lange Inschrift auf der Tür trägt. Deshalb kam ich nach Theben, um mein Herz an der Inschrift auf seiner Grabstätte zu weiden. Aber ich kann nicht lesen, und niemand hat sie mir vorgelesen, obwohl ich das Grab nach vielem Fragen fand.«
»Wenn du willst, lese ich dir die Inschrift vor«, sagte ich, »denn ich kann lesen.«
»Möge dein Leib in Ewigkeit erhalten bleiben«, sagte er, »falls du mir diesen Dienst erweist. Denn ich bin ein armer Mann und glaube alles, was geschrieben steht. Deshalb will ich, bevor ich sterbe, wissen, was über Anukis geschrieben steht.«
Er rieb mir den Leib mit Öl ein und wusch mein Lendentuch im Wasser. Zusammen gingen wir in die Totenstadt, und die Wächter wehrten uns den Zutritt nicht. Wir gingen zwischen vielen Reihen von Gräbern hindurch, bis er mir ein großes Grab zeigte, vor das man Fleisch und allerlei Backwerk, Obst
Weitere Kostenlose Bücher