Sinuhe, Sohn der Sykomore 1
täglichen Einerleis dahin, denn Ipi brachte seine Sorgen nie mit nach Hause. Er war von Amenemhet zum höchsten Beamten der Beiden Länder ernannt worden, aber er schätzte die Stunden in seinem kunstvoll ausgeschmückten Anwesen zu sehr, um sie mit den Problemen seiner Arbeit zu belasten.
Und so hatte seine jüngste Tochter Sat-Hathor, von allen liebevoll nur Sati gerufen, bislang eine unbeschwerte Kindheit gehabt. Genau genommen waren Satis Eskapaden das Einzige, das den Frieden des Hauses stören konnte. Die Sechsjährige hatte ihren eigenen Willen.
»Sati, Sati! Verflixt, wo steckt das Kind nur wieder?«
Leise kichernd hörte das Mädchen die Rufe der Kinderfrau. Sie hatte sich hinter einem Busch nahe der Gartenmauer verkrochen, denn sie wollte lieber auf dem Markt den Geschichtenerzählern lauschen, als einen weiteren Nachmittag am Webstuhl zu sitzen, bis ihr die Augen tränten. Die Tochter des Wesirs sollte zu einer vorbildlichen Vorsteherin des Haushalts erzogen werden – so sahen es jedenfalls die Eltern, denn sie würde später einmal einen Mann von vornehmem Geblüt heiraten.
Sati aber hatte ganz andere Interessen. Wie aufregend und herrlich waren die Geschichten, denen sie so gern zuhörte! Aus dem Mund der Erzähler drangen Worte, die sich in den Gedanken des Mädchens zu einem farbenfrohen Tuch verwoben, das sie in eine andere Welt entführen konnte, wenn sie es zuließ. Und das tat sie oft.
Nun drückte sie doch das schlechte Gewissen, denn auch ihre Mutter kam in den Garten gelaufen und suchte nach ihr. Sati wusste, dass sie sich immer um sie sorgte, wenn sie verschwand. Und oft hatte sie sich schon die Mahnungen der Eltern anhören müssen, wie gefährlich es für ein kleines Mädchen sei, allein durch die Stadt zu wandern. Ob sie doch lieber umkehrte? Mutter und Kinderfrau verschwanden im Haus, und nun lag der Garten im nachmittäglichen Licht verlassen da. Die Gelegenheit war zu gut, um sie verstreichen zu lassen.
Ihre nackten Füße klatschten auf den staubigen Weg, als sie die Gasse an der elterlichen Grundstücksmauer entlangrannte. Erst als sie in das Gewimmel der kleinen Gässchen des Handwerkerviertels eingebogen war, verlangsamte sie ihre Schritte.
Manche der Frauen, die vor ihrer Haustür Körbe flochten, grüßten das kleine Mädchen freundlich, denn sie kannten sie inzwischen. Hätten sie gewusst, dass sie die Tochter von Ipi, dem Wesir der Beiden Länder war, hätten sie wohl nur den Kopf geschüttelt. Deshalb zog Sati bei ihren Ausflügen auch niemals ihre guten Kleider aus durchscheinendem Leinen an, sondern trug lediglich ein schmuddeliges Lendentuch um die Hüften geknotet. Das Verkleiden und Vorgeben, eine andere zu sein, machte ihre Ausflüge für sie noch spannender und die Geschichten, die sie zu hören bekam, um einiges aufregender.
Jetzt hatte sie den Markt erreicht. Ungesehen drückte sie sich an den Verkaufsständen vorbei und ließ sich schließlich im Schatten einer Mauerecke nieder, wo sie gut genug hören konnte.
Die Märchenerzähler zogen in der Regel von einem Ort zum nächsten, und so war auch an diesem Tag der Mann, der die Geschichte der Rudj-Djedet zum Besten gab, ein Fremder für Sati. Das Märchen aber kannte sie bereits. Sie blieb still sitzen, bis der Mann geendet hatte und mit einem anderen begann.
»Da erhob sich Prinz Chephren und sprach: ›Ich will von einem Wunder erzählen, das sich zur Zeit deines Ahnen Nebka zugetragen hat …‹«
Sati seufzte glücklich und ließ sich von den Worten in eine längst vergangene Zeit tragen. Später zog sie sich an ein ruhiges Plätzchen am Nil zurück und ließ ihre Gedanken schweifen. Das Rauschen des Windes im Schilf war so beruhigend. Es war, als wispere es ihr voll unerfüllter Sehnsucht zu.
Ob es wirklich Zauberer gab, die eine Wachsfigur in ein Krokodil verwandeln konnten? Sie schloss die Augen und glitt unmerklich in den Zustand zwischen Wachen und Schlaf, in dem die unglaublichsten Dinge geschehen können. In Satis Kopf verwoben sich Traum und Wirklichkeit.
Die unsanfte Berührung einer Hand schreckte sie auf.
Sie riss die Augen auf und erblickte einen Mann über sich, viel zu nah. Sie wollte schreien, aber schon hatte sich eine schwielige Pranke über ihren Mund gelegt.
Sati konnte den fauligen Atem ihres Angreifers riechen, sah den Blick unter der niedrigen Stirn glasig vor Begierde werden und ahnte, was der Mann von ihr wollte. Und da schob er auch schon seine andere Hand zwischen ihre
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