Sir Darrens Begräbnis - Magie - Engel, Gift, Diebe
sich vorzustellen, was mit ihren Lehrern geschehen war. Sie glaubte nicht daran, dass sie in dem Fluss umgekommen waren – und doch konnte sie nicht ausschließen, dass der magische Zwang, unter dem sie offenbar gestanden hatten, als sie Valkynguur verließen, den Zweck erfüllte, sie in diesen Strom zu führen … und damit in den Tod.
Über dem Strand raschelte es. Es war nicht das Rauschen des Wassers. Es schien von papiernen Vorhängen zu rühren, die sich unsichtbar in der Luft aneinander rieben. Lange Zeit waren nur die Geräusche da. Dann gab es Bewegungen halbtransparenter Hände. Sie schienen zu versuchen, die Vorhänge beiseite zu schieben, doch während sie das taten, wuchsen ständig neue Papierbahnen nach. Die Hände gaben nicht auf, irgendwann siegten sie, und aus einer Falte in der Luft trat eine wundervolle Gestalt, die einem Engel gerecht wurde.
Vor einem annähernd herzförmigen Hintergrund aus vibrierendem weißem Flaum (die Flügel!) stand eine junge Frau in der Luft, deren weißblondes Haar helles Licht verstrahlte. In dem blendenden Schein war ihr Gesicht kaum zu erkennen, und vielleicht war dies besser so, denn ein Mann, der dieses Antlitz lange genug betrachtete, würde Schwierigkeiten haben, jemals wieder ein menschliches Gesicht als schön zu empfinden. Die Kleidung der Engelin bestand aus vielen glatten, geraden Bahnen, die den papiernen Vorhängen ähnelten, mit denen sie eben noch gerungen hatte.
Die meisten aus der Gruppe gingen unwillkürlich in die Knie. Selbst Felinep ließ sich auf den Bauch sinken, und Arthuris legte sein Schwert nieder und verbeugte sich.
„Angelor“, war Mad Kaos Stimme durch das Rascheln zu hören, das ein unsichtbarer Wind in den Kleidern der himmlischen Gestalt entfachte. „Wir bitten dich, führe uns zu denen, die wir suchen. Und dann nenne deinen Preis.“
Sabel zuckte ein wenig zusammen. Die Passage mit dem Preis behagte ihr wohl nicht, aber nicht einmal sie brachte den Mut auf, das Gespräch zu stören. Mad Kao hatte tatsächlich eine Engelin beschworen, und jetzt galt es, keinen Fehler zu machen.
„Seid gegrüßt“, sagte Angelor. Wenn sie sprach, war es wie ein mehrstimmiger Gesang. „Euch zu helfen, ist mir ein Vergnügen. Jene, die ihr sucht, sind am Leben.“
Jaque atmete auf. „Wo sind sie?“, rutschte es ihr heraus.
Angelor wandte sich von Mad Kao ab und ihr zu. Irgendwo in dem strahlenden Lichtschein, der über ihren Schultern schwebte, war ein Lächeln zu erkennen. „Sie wurden ein wenig abgetrieben, und der Strom hat ihre Eintagssamen weggeschwemmt, doch sie haben unversehrt das andere Ufer erreicht. Ihr Weg führte sie von hier aus exakt nach Westen. Ihr braucht ihre Spuren nicht zu suchen. Geht immer nur nach Westen, und ihr werdet sie finden.“
„Was ist ihnen widerfahren?“, wollte Jaque wissen. „Wurden sie entführt?“
„Sie gingen nach Westen“, sang die Engelin.
„Aber warum? Standen sie unter einem Zwang?“
„Ich habe ihre Gedanken nicht gelesen. Sie machten einen zielstrebigen Eindruck.“
Sie ist also nicht allwissend , dachte Jaque bei sich. „Wie weit ist es bis zu ihnen? Sind sie in Gefahr?“
„Viele Fragen“, sagte Angelor, „treiben den Preis in die Höhe.“
Jaque sah sich eilig um. Ihr war es, als wäre Mad Kao einen Schritt zurückgetreten. Fürchtete sie sich vor Angelor? War Jaque zu weit gegangen, als sie sich in das Gespräch eingemischt hatte? Egal, nun war es bereits zu spät – und sie hatte wichtige Informationen bekommen, auch wenn ihr anderes vorenthalten worden war.
„Kannst du uns über den Fluss bringen?“, fragte Jaque.
„Das liegt in meiner Macht“, antwortete die Engelin.
Mad Kao hatte sich abgewandt. Vielleicht war sie beleidigt, dass Angelor nicht mit ihr sprach.
„Bitte, bring uns ans andere Ufer“, verlangte Jaque.
„Moment!“, schaltete sich Sabel ein. „Wir können einen anderen Weg finden. Es könnte irgendwo eine Brücke geben, oder wir bauen ein Floß und …“
„Das kostet uns zu viel Zeit“, blieb Jaque hart.
„Wie ihr wünscht“, sang Angelor. Jaque wusste nicht, was die anderen empfanden, aber sie selbst hatte das Gefühl, in die Luft gehoben zu werden und anschließend durch einen Wasserfall aus hauchdünnem Papier zu schreiten. Als sie glaubte, sich zu verirren, war sie bereits auf der anderen Seite angelangt. Sie spürte den Sand und die Steine unter ihren Füßen und sah die anderen neben sich. Jeder für sich vergewisserte sich, dass
Weitere Kostenlose Bücher