Sirenenfluch
seine strenge Erscheinung nicht mehr ganz so unnahbar wirken ließ. So war er eher ein hagerer Mann mit einer winzigen Gleitsichtbrille und einer beigefarbenen Hose, als der Besitzer eines Ladens, in dem Einrichtungsgegenstände so viel kosteten wie das Auto von Wills Vater. »Wie kann ich Ihnen denn weiterhelfen?«
»Also …« Will wühlte in seiner Tasche und beförderte ein in eine braune Papiertüte gewickeltes Etwas hervor. Der Mann sah aufmerksam zu, als Will behutsam die Flöte aus der Tüte nahm und sie hochhielt. »Können Sie mir irgendetwas hierüber sagen? Bei Ihnen im Schaufenster liegt doch genau so eine.« Will wies mit einem Kopfnicken über seine Schulter.
Der Mann huschte hinter seine Theke und streifte eilig ein Paar weiße Baumwollhandschuhe über. Dann nahm er die Flöte und betastete sie mit äußerster Vorsicht. »Dies ist ein sehr altes Instrument.«
»Wie alt?«
»Ich bin mir nicht hundertprozentig sicher. Natürlich müsste ich sie zunächst authentifizieren lassen, aber ich schätze mal, dass sie wohl an die fünfhundert Jahre alt sein dürfte. Möchten Sie die Flöte verkaufen?«
»Nein.« Allein bei dieser Frage juckte es Will schon in den Fingern. Er wollte seine Flöte zurück, allerdings konnte er sie dem Mann ja nicht einfach aus der Hand reißen. »Ich … ich wollte einfach nur mehr darüber erfahren.«
»Es tut mir wirklich leid, dass ich Ihnen nicht mehr dazu sagen kann. Die Flöte, die dort im Schaufenster liegt, ist ein äußerst seltenes Stück. Im Grunde warte ich nur noch auf das Echtheitszertifikat, damit ich sie nach Nizza in Frankreich schicken kann. Dort soll sie in ein Museum kommen.« Er ging mit der Flöte zur Ladentheke und legte sie sachte nieder. Dann holte er einen Stoffbeutel und steckte das Instrument behutsam hinein. Er rollte den Beutel auf und übergab ihn Will. »Etwas so Wertvolles sollte sicher aufbewahrt werden«, sagte der Mann.
»Danke.« Will packte die Flöte wieder in seine Tasche und schämte sich insgeheim für seine zerknitterte Papiertüte. »Aber könnten Sie mir denn sagen, woher Sie die andere Flöte haben?«
»Interessanterweise war die Person etwa so jung wie Sie. Sie arbeitet gleich nebenan.« Der Verkäufer kritzelte etwas auf die Rückseite seiner Visitenkarte. Asia Marin stand dort in krakeligen Großbuchstaben.
»Ach, sie arbeitet im Bella’s?« , fragte Will und konnte sein Glück kaum fassen. »Das ist ja toll, ich wollte sowieso gerade dorthin.«
»Ein Wink des Schicksals«, verkündete der Antiquar feierlich.
Will nickte und musste darüber schmunzeln, wie rasch der Mann wieder zu seiner spröden Ernsthaftigkeit zurückgekehrt war. »Ja, kann sein.«
Will ließ sich in einer Zweiersitzecke nieder und stellte seine graue Kuriertasche auf dem Tisch ab. Es war jetzt später Vormittag und die ersten Mittagsgäste trafen nach und nach ein. Zoe hatte Will erzählt, dass sie fast ausschließlich für die Mittagsschichten eingeteilt worden war, allerdings war sich Will nicht sicher, ob sie heute auch arbeitete. Er ließ den Blick durch den langen Raum schweifen. Farmer mit Baseballkappen hatten es sich in ihren Sitzecken bequem gemacht und hockten dicht gebeugt über ihren Fish and Chips. Zwei dicke Frauen teilten sich lachend ein Bananensplit. Überall saßen Leute, die aßen und sich unterhielten.
Will holte die Flöte aus seiner Tasche und befreite sie vorsichtig von dem Stoffbeutel. Vermutlich hätte er besser Handschuhe tragen sollen, so wie der Herr in dem Antiquitätengeschäft, doch andererseits hatte er die Flöte bereits so oft in den Händen gehalten, dass es nun wohl auch keinen Unterschied mehr machte.
Das Holz in seiner Hand wog leicht, wie die feinen Knochen eines Vogels.
Sie hatte Tim gehört. Nicht, dass er darauf gespielt hatte. Soweit Will wusste, konnte Tim lediglich Gitarre spielen. Nichtsdestotrotz war dies Tims Flöte. Davon ging Will zumindest aus.
Wochen, nachdem seine Familie einen Grabstein über einer leeren Kiste errichtet hatte, hatte Angus’ Onkel Will zu sich auf die Polizeistation gebeten. Er hatte gesagt, er habe etwas für ihn. Als Will dort angekommen war, hatte Polizeichef Barry McFarlan eine Plastiktüte mit einem Beweisstück aus der Schublade seines Schreibtischs gezogen und erklärt, dass der Polizeibeamte, der nach Tims Verschwinden vor Ort gewesen war, die Flöte auf dem Segelboot im Rigg festgeklemmt gefunden habe. Da sie für die Ermittlungen nicht von Belang zu sein schien,
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