Sirenenlied
Tisch und ging neben Josh in die Hocke. Vorsichtig griff sie nach seiner Hand, die sich ein wenig rau und vor allem kühl anfühlte. Als hätte die Erwähnung seines Vaters auf ihn wie ein kaltes Bad gewirkt. Unter seinen Fingernägeln glaubte sie noch einen Rest von Salz zu entdecken.
»Ich habe davon gehört, dass dein Vater während eines Sturms über Bord gegangen ist, auch wenn ich damals noch nicht hier gelebt habe.« Eileen sprach behutsam, wie mit einem verängstigten Kind. »Es erzählen noch immer alle davon, dass es in jenem Frühjahr besonders stürmisch war. Aber diesen schlimmen Sturm hatte trotzdem niemand vorhergesehen. Eben noch sei es vollkommen windstill gewesen, dann sei ein Unwetter losgebrochen, als wäre es das Ende der Welt. Es muss schwer sein, wenn der Vater im Meer ertrinkt und die Frühjahrsstürme einen jedes Jahr erneut daran erinnern.«
Zunächst schien Josh seine Hand wegziehen zu wollen, aber dann ließ er sie doch in ihrer, bis seine Finger sogar wieder ein wenig Wärme annahmen.
»Zu sagen, dass mein Vater ertrunken ist, ist nicht ganz richtig«, sagte er leise. »Niemand weiß es, denn seine Leiche wurde nie gefunden. Er ist verschollen. Aber das weißt du ja bestimmt auch. Dieser Umstand war für die alten Klatschbasen des Dorfes ja das reinste Geschenk. Vermutlich zerreißen sie sich jedes Mal das Maul darüber, was Benjamin Galbraith widerfahren ist, sobald ich den Pub verlasse. Du weißt, wovon ich rede, oder?«
»Ja, es heißt, die Sirenen hätten deinen Vater mit ihrem Gesang in ihr Reich gelockt. Und von dort gibt es kein Entrinnen. Deshalb habe man seinen Körper nicht gefunden. Er kannte das Losungswort, mit dem man ihr Reich betreten kann. Er war genau die Sorte Mann, nach der sie suchen.«
»Wie klingt diese Erklärung in deinen Ohren? Nach einem Märchen oder...«, Josh deutete mit dem Kinn zum Fenster hinaus, durch das man vom Tisch aus nur das Meer sehen konnte. »Oder glaubst du, dass an Märchen durchaus auch etwas Wahres dran sein kann?«
»In jedem Märchen steckt ein Funken Wahrheit«, entgegnete Eileen, ohne nachzudenken.
Ein trauriges Lächeln stahl sich auf Joshs Gesicht. »Wenn du hier aufgewachsen wärst, wärst du vorsichtiger mit solchen Eingeständnissen. Es heißt nämlich, wer an Sirenen glaubt, der ruft sie auch. Und wer sie ruft, hört ihren Gesang. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das möchtest, Eileen.«
»Nein, dass möchte ich ganz bestimmt nicht. Aber ich würde auch nicht zulassen, dass jemand anderes ihrem Gesang folgt. Cragganmores Männer gehören dem Land, nicht dem Meer.«
Josh stieß ein Lachen aus, das mehr wie ein Schmerzenslaut klang. Dann sah er sie prüfend an. In seinem dunklen Wimpernkranz glitzerten Kristalle, kaum sichtbar, aber sie entgingen Eileen nicht. Zeugnisse des Meeres, sehr fein nur, aber es reichte aus, dass sie da waren.
»Cragganmores Männer gehören dem Land«, wiederholte Josh nachdenklich ihre Worte. »So etwas ist leicht gesagt.«
»Mag sein, aber mir ist es ernst.« So abwegig dieses vertraute Gespräch vor ein paar Minuten noch gewirkt haben mochte, jetzt war es von einer Intensität, die Eileen alles andere vergessen ließ. »Versprichst du mir, dass du nicht wieder im Meer schwimmen gehst, auch wenn du noch so viel getrunken hast?«
»Und was ist, wenn ich dir sage, dass ich gar nicht schwimmen war?«
»Aber das Salz auf deiner Haut...«, setzte Eileen verwirrt an.
»Vielleicht muss ich ja gar nicht ins Meer gehen, damit die Sirenen mich in die Arme schließen können. Du weißt
schon: Weil ich auch ein Mann von der Sorte bin, nach der sie suchen. Und einer Sirene stellt man sich besser nicht in den Weg, wenn ich mich nicht irre. Willst du trotzdem bei mir sein?« Joshs Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Ja.« Eileen brauchte nicht eine Sekunde lang nachzudenken, so natürlich kam ihr die Antwort über die Lippen. Das war es, was sie wollte: bei Josh sein. Das Geständnis fühlte sich richtig an, richtiger als alles andere in ihrem Leben.
Doch kaum war das Wort ausgesprochen, breitete sich eine bislang nicht gekannte Furcht in ihr aus, als würde sie in einen schwarzen Abgrund blicken - ausgelöst von etwas, das sie nicht zu fassen bekam. Eine Art unsichtbare Macht. Plötzlich schien sie mit der Berührung von Joshs Hand eine Grenze zu überschreiten und fremdes Land zu betreten, auf dem sie nicht willkommen war. Nein, kein Land, sondern ein düsteres Wasserreich. »Er gehört
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